Das Fest im Theater an der Meerwiese Münster

Dekonstruktion eines Patriarchen

Der Patriarch hält Hof: zu seinem 60. Geburtstag will Helge Klingenfeld-Hansen sich gebührend feiern lassen. Und so lädt er Freunde und Familie zur Gratulationscours auf den Landsitz der Familie ein. Freund*innen und auch seine Kinder sollen ihm gebührend huldigen. Das letzte Familientreffen war ein trauriger Anlass. Seine Tochter Linda hat Selbstmord begangen.

Dieses Mal soll es fröhlich werden und Helge will sich im Glanz seiner Verdienste sonnen. Doch es kommt anders: Der älteste Sohn Christian, Zwillingsbruder der verstorbenen Linda, hat zwei Reden vorbereitet und Helge kann wählen, welche gehalten werden soll: Helge wählt den grünen Umschlag. „Eine interessante Entscheidung“, findet Christian, denn dieses Kuvert enthält „eine Art Wahrheitsrede“. Sie heißt: „Wenn Papa ins Bad wollte“ und berichtet vom jahrelangen sexuellen Missbrauch der Zwillinge durch den Vater und gipfelt in Christians Anklage, Helge habe seine Tochter in den Selbstmord getrieben: „Auf den Mann, der meine Schwester umgebracht hat. Skøl auf einen Mörder!“ Helge leugnet und verweist darauf, dass Christian schon als Kind in einer Nervenheilanstalt gewesen sei. Mutter Else ist entsetzt und verlangt eine Entschuldigung. Die Gäste protestieren empört, niemand will ihm Glauben schenken. Die Stimmung ist ruiniert, alte Wunden brechen auf. Helene entdeckt einen Abschiedsbrief ihrer Schwester, der bestätigt, dass sie Selbstmord beging, weil sie mit der Traumatisierung durch den Inzest nicht fertig wurde.

Nach dem Originaldrehbuch des Films von Thomas Vinterberg und Mogens Rukov inszeniert Alexander Becker Das Fest im Begegnungszentrum Meerwiese als neuestes Projekt des TheaterX.

Eine lange, U-förmige Tafel prägt den Raum des Geschehens. Dort wird im Verlaufe des Abends nicht nur gegessen. Sie verwandelt sich auch in den Ort des Tribunals, als Christian seine Anschuldigungen vorbringt. Andere Räume werden kunstlos wie effektiv durch zwei verschiebbare Raumteiler angedeutet. Dort und an der offenen Seite der Tafel finden Gespräche statt, die die Verhältnisse der Handelnden untereinander beschreiben. Eines wird schnell klar: Die Eltern halten das Leben all‘ ihrer Kinder für misslungen.

Für den Regisseur stellt sich die komplexe Aufgabe, die vielen Personen auf der Bühne als Ensemble zu präsentieren, Ordnung ins „wuselige“ Ganze zu bringen und die Handlung sich nicht verfransen zu lassen. Das gelingt Becker gut. Außerdem schafft er es, allen Geladenen individuelle Züge zu verleihen und die Verhältnisse in der „Kernfamilie“ mit oft nur wenigen Gesten und präzise betonten Worten passgenau herauszumeißeln.

Ob seines Inhaltes ist das Stück extrem fordernd - für Ausführende und Publikum gleichermaßen. Die Zuschauenden werden 105 Minuten lang in eine höllische Achterbahn gesetzt. Hinter jeder Kurve lauert eine neue Wendung, gekennzeichnet von permanenten Stimmungsumschwüngen. Auf einen lauen Witz folgt direkt die Inzestanklage, auf einen „Versöhnungsbeischlaf“ eine heftige Prügelei unter Brüdern und auf eine fröhliche Polonaise ein brachialer Homophobieausbruch. Diese Spannungsbögen aufzubauen, kulminieren zu lassen und dann wieder „herunter zu kochen“ ist die große Aufgabe, die dem Ensemble hervorragend gelingt und dem Abend den Stempel aufdrückt. Es entsteht eine stets knisternde Atmosphäre, die niemanden kalt lässt. Cornelia de Ross, Jürgen Brakowsky, Sabine Flora, Lina Förster, Karin Gövert, Heike Hombach, Christian Harnisch, Marcel Karau, Maria Stephan, Lilli Schnabel, Jonas Liekefedt, Martin Lasche, Sarah Thissen, Vera Schmitz-Hübsch, Elke Nagel, Michael Zengerink, Claudia Niedermeier, Bernd Rosenkranz, Teresa Zematma, Franziska Weber und Monika Zimmerhof-Elsner bilden das tolle Team.

Am Morgen nach dem Fest sind Verwerfungen manifestiert und der Schuldige ausgemacht. Helge sitzt noch mit an der Frühstückstafel. Doch niemand redet mehr mit ihm. Er ist Luft für alle Anwesenden, quasi nicht mehr existent. Und so ist das Ende ebenso blutig wie konsequent: Helge erschießt sich. Doch auch davon nimmt niemand mehr Notiz. Alexander Becker und seinem TheaterX gelingt ein tief berührender Theaterabend, der sehr lange nachklingt.