Der Trafikant im Münster, Wolfgang-Borchert-Theater

Adoleszens unter'm Hakenkreuz

Es sind bewegte und bewegende Zeiten, in denen der junge Franz Huchel in die österreichische Hauptstadt Wien kommt: Die Vereinigung mit Nazi-Deutschland steht kurz bevor - später werden deren verheerende Auswirkungen offenbar. Doch viel verheerender ist für Franz das absolute Gefühlschaos, in dem er sich befindet. Franz wird erwachsen und das allein in einer Stadt, die so fremd und anders ist als sein bisheriges beschauliches Leben im Salzkammergut. Und die gesellschaftlicheVerhältnisse zwingen ihn, schneller erwachsen zu werden, denn er muss Entscheidungen treffen, die sein Leben nachhaltig prägen werden.

Robert Seethaler erzählt diese Coming-of-Age-Geschichte in seinem Roman Der Trafikant. Auf Deutsch würde man wohl sagen: „Der Kioskbetreiber“ - obwohl das herzlos ist und nicht die Seele eines Trafikanten beschreibt, mit der er an seiner Trafik hängt und diese mit Leben füllt. Bei einem solchen schickt ihn seine Mutter in die Lehre.

Die Bühnenfassung erzählt in einer dichten Szenenfolge davon, wie Franz die Liebe mit all‘ ihren Fallstricken durch die Böhmin Anezka kennenlernt, wie schnell durch die Nazis ein System von Angst und Denunziation etabliert wird. Und sie erzählt von Franz‘ Freundschaft mit Sigmund Freud, einem Stammkunden der Trafik. Die Gespräche mit ihm lassen Franz vor allem erfahren, dass es wichtig ist, stetig Fragen zu stellen und das immer wieder neu in jeder Lebenssituation. Auch macht Freud ihm klar, dass es wichtig ist, sich seinen furchterregenden Träumen zu stellen.

Auf einer Bühne Stefan Bleidorns, die von Pop-Up -Leinwänden gegliedert wird, kann Regisseurin Tanja Weidner durch die Projektion von zeitgenössischen Fotos sowohl Ambiente schaffen, als auch auf Spielräume zugreifen, die sowohl ein hohes Maß von Intimität zulassen. Gleichzeitig gibt es aber genug Platz für die große Geste, den hallenden Verzweiflungsschrei.

Tanja Weidner konzentriert sich ganz auf Franz Huchel, macht seine Emotionen begreifbar und durchscheinend - vor allem in seinen Reaktionen auf das Verhalten der anderen Figuren. Da bleiben wenige Gesten zufällig, wenige Blicke unerwidert.

Florian Bender und Erika Jell schlüpfen in viele kleine Rollen - ob Kellner, Nazi-Scherge oder Fleischhauer - alles gelingt typgerecht. Ivana Langmajer ist liebende Mutter, schreibt ihrem Franz aufbauende Postkarten und kann ihm in Liebesdingen doch nicht helfen. Jürgen Lorenzen ist Sigmund Freud, professoral und dennoch wohlmeinend wird er bisweilen auch zum advocatus diaboli. Rosana Cleve ist Anezka - erfahren im Liebeshändel und immer auf ihren Vorteil bedacht.

Gregor Eckert ist der Trafikant - mit ganzer Seele in seinem Geschäft verhaftet. Lediglich mit österreichischem Dialekt und der einhergehenden Satzmelodik kommen alle nicht immer so ganz klar. Aber die ist für den Kern des Stückes auch nicht notwendig.

Alessandro Scheuerer kann sich ganz in Franz‘ Seele hineinversetzen und seine Gefühle mit einem Höchstmaß an Glaubwürdigkeit ins Publikum transportieren, dessen Entwicklung zu beglaubigen.

Ist ihm die Stadt mit ihren Einwohnern zunächst einfach ein Buch mit sieben Siegeln, wächst er hinein. Als sein Lehrherr von den Nazis verhaftet und ermordet wird, ist nun er Der Tafikant. Aus dieser gefestigten Position heraus entscheidet er sich - der Konsequenzen bewusst - ein Fanal gegen die Barbarei zu setzen.