Über die Doppeldeutigkeiten von Begriffen wie „Machtmissbrauch“
Das Rheinische Landestheater Neuss eröffnete die neue Spielzeit mit einem äußerst spannenden, intellektuellen Stück über Paarbeziehungen, Vertrauen, Freundschaften und unterschiedlichen Sichtweisen von Machtstrukturen. Letztere sind ja seit der #MeToo-Debatte in den gesellschaftlichen Fokus gekommen. Lutz Hübner und Sarah Nemitz lernten sich als Schauspieler in den 90er Jahren am RLT Neuss kennen. Seit 2001 bilden sie zusammen eines der erfolgreichsten Autorenduos der Gegenwart, dessen Stücke in mehr als ein Dutzend Sprachen übersetzt wurden. Ihre Figuren verhandeln in direkter Sprache aktuelle Themen und Konflikte.
Tom Gerber inszenierte Die Wahrheiten am Rheinischen Landestheater und zeichnete auch für Kostüme und Bühne verantwortlich. Über der Spielfläche steht an der Rückwand in großen Leuchtbuchstaben HERE YOU ARE. Ein passendes Bild zu der permanenten Suche der vier Protagonisten nach dem eigenen Standpunkt. Links ein Klavier, auf dem zuweilen kurz gespielt wird, rechts eine Bank. Mehrere Holzplanken, die an Schiffsstege erinnern, bedecken dazwischen den Boden. Gerber schuf im Einverständnis mit den Autoren eine eigene Textversion, in der er Teile des dritten Aktes vorzieht.
Worum geht es? Um die 17 Jahre alte Freundschaft zweier Paare, die durch eine brüske SMS des jüngeren Paares, Jana und Eric, beendet wird: „Hallo Sonja und Bruno, wir haben beschlossen, den Kontakt zu euch abzubrechen. Wir wollen das nicht mit euch diskutieren. Jana und Eric“
Äußerst exaltiert und aufgebracht erklärt Jana (Katrin Hauptmann) Eric (Benjamin Schardt), warum sie – dank ihrer Therapie – einen vier Jahre zurückliegenden Tatbestand als eindeutiges Beispiel für Machtmissbrauch einschätzt, der sie zum Trennungsschritt bewog. Sie hatte für Bruno (Steffen Scheue) ein Führungscoaching durchführen sollen. Es scheiterte an Anzüglichkeiten der Workshop-Teilnehmer ihr gegenüber. „Da war ich Beute.“ Bruno half ihr nicht, sondern habe sich wie „ein beschissener Zuhälter“ aufgeführt. Eric glaubt ihr zum Teil, obwohl er sich wundert, dass seine Frau erst jetzt damit rauskommt. Im Folgenden erleben wir in schnellem Wechsel Diskussionen zwischen den Ehepartnern einerseits und den, voneinander getrennten Aussprachen der Männer bzw. der Frauen. Hierbei wird klar, dass es noch ein anderes schwerwiegendes Problem gibt. Das ältere Paar, das die jüngeren Freunde oft finanziell unterstützt hat (Bruno: „Die wären untergegangen ohne uns.“), hat ein Kind, das Resultat einer Vergewaltigung ist. Bruno akzeptierte die Vaterschaft, es sollte nur niemand davon erfahren. Sonja hat aber ihre Geschichte Jana erzählt: „Ich kann nicht alles, was mich beschäftigt, mit dir klären.“ Eric, der seine Frau zwar nicht immer versteht, will aber doch seine Familie behalten, solange er einen Ausgleich hat, wie zur Zeit seine Freundin Maja. Von der Jana nichts weiß, wohl aber Bruno. Er sagt: „Von einem schönen Teller isst man nicht allein.“
Es ist ein Abend der Missverständnisse, sowohl zwischen den Ehepartnern als auch zwischen den Freunden. Keiner kennt die vollständige Wahrheit und deshalb ist auch keiner objektiv.
Gerber kann sich auf ein exzellentes Ensemble verlassen. Stefen Schleue als Bruno, von dem man nur erfährt, dass er ein Finanzfachmann ist, traut man eher eine laxe Beurteilung des verunglückten Workshops zu. Juliane Pempelfort als Sonja ist eine in sich ruhende Person mit Selbstdisziplin. Mit Jana spricht sie, weil sie eine Vertraute braucht. Benjamin Schardt gibt den charmanten, gutaussehenden Kulturjournalisten, der das Leben und die Frauen ohne Komplikationen genießen möchte. Katrin Hauptmann spielt, manchmal zu überzogen, Jana, die über ihre „Erschöpfungsdepression“ klagt. Am Ende ist sie glaubhaft, wenn sie überlegt, dass sie sich von Eric trennen will: „Ich muss auf eigene Rechnung leben.“
Ein spannender Abend, dank der verschiedenen Perspektiven auf die Probleme. Alle drücken ihre Gefühle zwar elaboriert aus, kommen aber trotzdem nicht zusammen. Langer, sehr lebhafter Beifall für Regie und Schauspieler.