Übrigens …

Franziska – Ein modernes Mysterium im Schauspielhaus Düsseldorf

Die ganz banale Idee: Eine gewitzte Faust-Paraphrase

Meine Damen und Herren! Bitte denken Sie sich eine ganz banale, sehr naheliegende Idee! Dann muss ich bekennen, diese Idee ausgeführt zu haben – ich habe nämlich einen weiblichen Faust geschrieben: Franziska!

So bewirbt Frank Wedekind 1911 clever sein noch nicht fertiges Stück. Eine tolle Idee, sich an die berühmteste Tragödie des großen Goethe anzuhängen. Da erkennt man den routinierten Werbefachmann in Wedekind, der u. a. Werbetexter für Maggiwürze war. (Das erfährt man bei Google und im Programmheft.) Ein Jahr später, am 20.November 1912, nach der Eröffnung der Münchner Kammerspiele, übernahmen er und seine Frau Tilly die Hauptrollen bei der Uraufführung des Stücks. Jetzt, 110 Jahre später, wagt es Sebastian Baumgarten, den turbulenten Fünfakter mit all seinen Zeitbezügen zum Wilhelminismus in Düsseldorf auf die Bühne zu bringen. Und er schafft es mit einem brillanten Ensemble, das Publikum zu begeistern: zweimal gibt es - ganz gegen die Gewohnheit im Schauspielhaus – Szenenapplaus.

Baumgarten schafft ein farbiges Spektakel, dessen Bezüge zum Faust-Original allerdings nur spärlich sind. Die Verfremdung beginnt mit Goethes Mephisto und seinen himmlisch-höllischen Beziehungen. Bei Wedekind ist der Quasi-Teufel nur ein ganz erdengebundener Versicherungsvertreter ohne Verbindung zum Jenseits und er bietet nicht eine Wette an, bei der der Ausgang offen ist, sondern einen Vertrag, der die Bedingungen beider Partner festlegt. Doch die Besetzung der Hauptrollen lässt von Anfang an nicht daran glauben, dass dieser Versicherungs-Teufel seinen Deal durchziehen kann. (Die Bismarck’schen Sozialgesetze galten seit 1889.)

Die Gastschauspielerin Sonja Beißwenger gibt die selbstbewusste Franziska mit Wucht und Temperament. Wenn sie auch im ersten Bild im siebenstufigen Rüschen- und Spitzenrock scheinbar brav auftritt, so beschriftet sie doch die Bühnenwand kraftvoll mit Begriffen wie MANIPULATION und im Streit mit der Mutter, die von Rainer Philippi eher als Oma aus längst vergangenen Zeiten gegeben wird, macht sie klar, dass sie ultimative Freiheit und grenzenlose Selbstentfaltung für sich fordert. Da hat der biederbrave Eheaspirant, der Politiker Dr. Hofmiller, den die Mutter präsentiert, von vornherein keine Chance. Während Franziska im wahrsten Sinne des Wortes über Tische und Bänke tobt, erscheint der teuflische Versicherungsvertreter Veit Kunz (glänzend gespielt von Florian Claudius Steffens) genau zur rechten Zeit mit dem perfekten Angebot für ihre Forderungen ans Leben: „Ich fordere Freiheit – Lebensgenuss und dabei nichts zu verlieren , sondern nur zu gewinnen“. Der angebliche Sternenlenker Kunz bietet ihr genau das für zwei Jahre, in denen sie alle männlichen Freiheiten genießen kann, allerdings als Mann und Künstler mit Namen Franz. Doch verlangt er sie danach als seine persönliche „Geliebte und Sklavin“. Franziska erkennt sofort ihre Chance, den Vertrag zu unterlaufen: „Ihre Geliebte? - Ich denke, Sie machen einen Mann aus mir?“ Da liegt der wunde Punkt: Veit Kunz kann das „Naturgesetz“, die biologische Weiblichkeit, die das Weib seiner Meinung nach grundsätzlich auch zum Eigentum des Mannes prädestiniert, nicht aufheben. Was er als seinen Vorteil einschätzt, wird im Stück zum Anlass aller Turbulenzen und letztlich zu Franziskas Sieg.

Die grandiose Bühnengestaltung des niederländischen Ateliers Van Lieshout, die in drei Ebenen mit architektonischen Fragmenten sowie zeit- und raumübergreifenden Videoeinspielungen die Reise des angeblichen Franz bebildert, macht aus dem Ganzen einen bravourösen Wechsel zwischen Kabarett, Totentanz und Geisterspiel. Dabei schafft die Drehbühne immer wieder neue Räume, so etwa das mit großen Plastikwürfeln als biedere Spießerwohnung denunzierte Ambiente, in dem die verzweifelt um den Ehemann Franz ringende Sophie in ganz heutigem Outfit schließlich erfährt, dass ihr Franz eine Franziska ist und sich erschießt (Cathleen Baumann hinreißend in vier verschiedenen Rollen). Bevor die Bühne von München nach Rotenburg zum Spiel im Spiel dreht, erfahren wir, dass unser Pseudofranz schwanger war vom bisexuellen Sternenlenker und schon um des Gaukelspiels willen abgetrieben hat. Dann entfaltet sich die Geisterwelt des Herzogs von Rotenburg. Riesige Monster erscheinen: Drache, Geier und Schweinehund. Der Stil wechselt, die Sprache kehrt zurück zu Versen. Der Herzog verweist in seinem Spiel auf Ideen Nietzsches und Georges und umgibt sich mit nackten Frauen. Unter den Nackten ist auch Franziska/Franz, jetzt in hautfarbenem Ganzkörpertrikot androgyne Nacktheit vortäuschend und mit akrobatischen Einlagen ein wenig vom Thema ablenkend. Auch in Rotenburg bleibt eine Frauenleiche zurück: Gislind, die Geliebte des Herzogs. Das ist das dritte Frauenopfer, denn zu Beginn der Reise wurde schon in Berlin die Hure Mausi von ihrem Zuhälter erschossen: Drei Frauen in klassischen Abhängigkeiten vom Mann: Hure, Geliebte und Ehefrau müssen sterben, Franziska aber hat am Ende die Wahl zwischen mehreren Männern, wählt keinen. Während ihr Sohn, von dem bisher nicht die Rede war, leicht debil auf einem Dreirad Kurven dreht, fährt sie unter Getöse mit einer neuen Liebe – Mann oder Frau? – in den Bühnenhimmel auf. Auf der Bühne bleibt der Livemusiker Jovan Stojsin zurück, der das gesamte Spiel bravourös auf der E-Gitarre begleitet.