Jenseits von Eden im Aachen, Theater

Epigenetische Prägungen

Es ist sein Opus Magnum. Alle früheren Arbeiten seien nur Vorübungen gewesen, sagte der Autor selbst. Jenseits von Eden, die große amerikanische Familien-Saga von John Steinbeck, erschien im Jahre 1952 und ist wohl sein bekanntester und beliebtester Roman. Er habe, so Steinbeck, „die Geschichte von Gut und Böse, von Kraft und Schwäche, Liebe und Hass, Schönheit und Hässlichkeit“ erzählen wollen. Aus der polaren Spannung dieser Gegensätze, die dem Menschen unzertrennlich eingeschrieben seien, gehe das Schöpferische im Menschen hervor. Mehr als 700 Seiten hat der Roman, der die Geschichte von drei Generationen zweier US-Familien – der Hamiltons und der Trasks - vom Beginn des amerikanischen Bürgerkriegs im Jahre 1861 bis zum Ende des 1. Weltkriegs 1918 erzählt. Die Hamiltons repräsentieren weitgehend die Geschichte der Familie von Steinbecks Mutter. Der Strang über die Trasks, sehr maskulin geprägt, trägt alttestamentarische Züge von Gut und Böse, Vaterliebe und Sohnes-Hass, Tugend und Laster. Martin Schulze inszeniert den Roman am Theater Aachen in einer Fassung der Dramatikerin Ulrike Syha und hat sich dabei auf die Familie Trask beschränkt.

Schnell ist die Geschichte der ersten Generation in einer Rückblende abgehandelt, die fast wie ein Präludium wirkt. Doch die Erzählung von Vater Cyrus, der ein strammer Soldat war, aber bereits nach kurzer Teilnahme am Bürgerkrieg aufgrund eines zerschossenen Beines seine militärische Karriere aufgeben musste, wird uns einholen – ebenso wie die mysteriöse Geschichte der Mutter, die sich in einem Teich ertränkte… - Mit großer Härte und in militaristischer Tradition hatte der Alte seine Söhne Adam und Charles erzogen und sich selbst als eine Art Gottvater inszeniert. Adam hatte er härter angefasst als Charles, aber der hat begriffen, dass er, Charles, beim Vater nur die zweite Geige spielt: „Ich liebe dich mehr als ihn“, sagt Torsten Borm als Cyrus zu Adam, „das habe ich immer getan. Warum sonst sollte ich mir die Mühe machen, dir weh zu tun?“ Und so hat Cyrus, der Militarist, nur Adam, den zarteren der beiden Brüder, zur Armee geschickt – was als eine Art Auszeichnung verstanden werden sollte. Auch die Freude über Adams Geschenk war beim Vater größer als die über das von Charles, obwohl dieser sich möglicherweise viel mehr Gedanken gemacht hat. Charles hält dennoch lange seine Hand über den jüngeren Bruder, bis die Angelegenheit eskaliert und er ihn in einem Anfall von Jähzorn und Eifersucht fast erschlägt – Adam spricht gar von einer „Abschlachtung“ und entwickelt – ganz im Gegensatz zu Charles – eine immer größere Abscheu gegen Gewalt. Charles hingegen, geplagt von Obsessionen wegen seiner nicht erwiderten Liebe zum Vater und seiner Zurücksetzung hinter den Bruder, entwickelt seine Laster.

Nun ist Cyrus tot. Den Brüdern hat er ein reiches Vermögen hinterlassen. Cathy Ames wird in das Leben der beiden Brüder gespült – schwer misshandelt, an Leib und Seele verletzt, aber auch schwer berechnend und andere an Leib und Seele verletzend. Sie heiratet Adam und schläft in der Hochzeitsnacht mit Charles. Sie verlässt ihren Mann, der mit ihr gegen ihren Willen nach Kalifornien gezogen ist, und arbeitet als Prostituierte. Es sind nicht ihre ersten verbrecherischen Machenschaften, mit denen sie sich schließlich des Bordells bemächtigt als Unternehmerin in der Sexarbeits-Branche tätig wird. Cathys und Adams Zwillinge erhalten nicht einmal einen Namen. Erst als sie ein Jahr alt ist, werden auch sie nach Gestalten aus der Bibel benannt: Caleb und Aaron, kurz Cal und Aron.

Die Geschichte wiederholt sich: Caleb will sich schlagen, Aaron will versöhnen. Caleb nutzt die Verletzlichkeit seines Bruders aus, um ihn zu quälen – und wie einst der junge Charles leidet er unter der eigenen Schlechtigkeit. Die Schlechtigkeit Calebs scheint ausgeprägter zu sein als die von Charles, das Gutmenschentum von Aaron ist ausgeprägter als das von Adam: Es wird ihm mehr und mehr im Weg stehen, auch bei der Anbahnung einer Beziehung zu der jungen Abra, die er, der sich mehr und mehr zu einer sektenhaften Interpretation des Christentums hingezogen fühlt, vom Wert der sexuellen Enthaltsamkeit zu überzeugen versucht. Die Unbedingtheit, mit der Aaron für das Reine und das Gute kämpft, wird zur Belastung für seine Umwelt – für seine Beziehung zu Abra, und auf andere Weise, durch das permanente Wecken von Schuldgefühlen, für seinen Bruder Caleb. Auch die abweisende Haltung des Vaters gegenüber Caleb, dessen aufopferungsvolle Arbeit zur Wiederbeschaffung von Adams verlorenem Vermögen keinerlei Anerkennung findet, wirkt härter, brutaler als noch eine Generation vorher. Allein die Anwesenheit des ins Bigotte abdriftenden Aaron wird zu einer ungeheuren Verletzung für Cal. Der rächt sich auf seine Weise. Und im Zuschauerraum, in dem wir noch nach einer Stunde eine eher konventionell daherkommende Inszenierung beklagt hatten, stockt einem der Atem. Es ist brutal, es tut weh. Aaron, jeglicher Illusionen beraubt, zieht in den Krieg und stirbt. Cathy träumt sich wie Alice ins Wunderland und nimmt sich das Leben. Adam erleidet einen Schlaganfall. Nur Cal und Abra überleben und haben die Chance, alles besser zu machen. Das Böse müsse kein schicksalhaftes Erbe sein, hatte die weltkluge Dienstbotin Lee behauptet, man könne es bekämpfen. So recht mag man es an diesem im Verlaufe der dreieinhalb Stunden Spieldauer immer eindrucksvoller auftrumpfenden Abends nicht glauben.

Einen Garten Eden wollte der ältere Adam auf seinem Gut in Kalifornien aufbauen. Doch wir wissen: Adam und Eva wurden im Garten Eden nicht dauerhaft glücklich. Jenseits von Eden erzählt Steinbeck die Geschichte von Kain und Abel – in zweifacher Ausfertigung. Cyrus, Charles, Caleb: Das sind - wie Cain - vordergründig die Bösen, die mit den schlechten Genen. Adam, Aaron, Abra: Das sind die Guten, Versöhnlichen, die keinen Hass kennen oder sich wie Aaron gar dem Leben für Gott verschreiben. Dazu gesellt sich Cathy Ames, Vorname mit C, Hausname mit A, verletzt und geschlagen wie Abel, böse und rachsüchtig wie Cain. Doch so einfach ist die Angelegenheit nicht.
Regisseur Martin Schulze zeigt Empathie für all seine Figuren. In seiner psychologisch genau gearbeiteten Inszenierung zeigt er auf, woraus das Böse resultiert und wie es den Bösen selbst quält - und wie das Gute ins Negative umschlagen kann. Er bezieht sich auf die Forschungsergebnisse der Epigenetik: Erfahrungen und Erlebnisse der Eltern können Einfluss auf die Entwicklung und Verhaltensweise der Kinder haben. Doppelbesetzungen und das Wiederauftauchen längst verstorbener Figuren versinnbildlichen dies in Schulzes Inszenierung, die dadurch Dringlichkeit entwickelt. Der junge Adam, die junge Cathy, die verstorbenen Cyrus und Charles kommentieren und beeinflussen die Handlungen der folgenden Generation. Kernsätze werden im Verlauf der Aufführung wiederholt und strukturieren auch die Gedankengänge des Publikums.
Eine der spannendsten Figuren aber ist die einzige, die weder mit A noch mit C anfängt. Rational und reflektiert blickt Diener Lee, hier von einer Frau gespielt (Nicole Ernst – ohnehin sind die Frauenfiguren die stärkeren in dieser Inszenierung!), auf das Geschehen. „Menschen, die sehen, was ist, sind seltener als Menschen, die sehen, was sie erwarten“, stellt sie fest, und richtig ausgeübt, verschaffe die Position des Dienstboten Macht. Lee ist die einzige in der gesamten Personnage, die zur ersten Kategorie von Menschen zählt. Die Macht, die aus der Analyse und der Erkenntnis resultiert, reicht aus, um sich aus dem Strudel von Lüge und Hass, von Liebe und Betrug herauszuhalten. Das ist ein hohes Gut. Doch den fatalen Kreislauf aufzuhalten, gelingt auch ihr nicht. Würde jemand der Dienerin zuhören und aus ihren Gedanken die richtigen Schlüsse ziehen, könnte viel Unheil vermieden werden.

Droben, über der Drehbühne, die den Blick in mal diese, mal jene unheilvollen Familien-Räume ermöglicht, dreht sich derweil die Projektion der Erde oder des Mondes (so genau lässt sich das nicht festlegen). Himmel und Gestirne wechseln schon mal die Farbe; es gibt Schönwetterwolken und einen dräuenden Gewitterhimmel. Als der Krieg ausbricht, der letztendlich nicht nur Adam das Leben kostet, färbt sich die Erde altrosa wie das gesamte Bühnenbild - vielleicht ist sie verbrannt, so wie die Beziehungen unter den Figuren auf der Bühne. Himmel und Gestirne, Erde und Wolken nehmen unbeirrbar ihren Lauf. Nichts wird sich ändern bei den Menschen dieser Familie, den Wiedergängern von Kain und Abel, von Hure und Heiliger. Wenn nicht endlich jemand auf die Dienstbotin hört.