Frau Müller muss weg
Dramatis Personae: Zarah Chi Chi (gesprochen wie Cevapcici), Karina und Frau Müller. Frau Müller muss weg. Denn die ist den kriminellen Machenschaften der beiden Fleischfachverkäuferinnen auf die Schliche gekommen. Mörderinnen sind sie, Räuberinnen, Steuerhinterzieherinnen und Geldwäscherinnen wohl auch, wie ihr Besuch im Zürcher Bankenviertel nahelegt. Man glaubt es kaum, wenn man die beiden Süßen hinter ihrer rosafarbenen Schweinetheke agieren sieht. Zarah trinkt sich erstmal ein Piccolöchen. „Der Mensch braucht Fleisch, so wie die Wölfe und die Geier“, sagt sie zufrieden. Oder, wie Frau Müller es einmal ausdrückt: „Kartoffeln in den Keller, Fleisch auf den Teller!“
Zarah ist Fleischfachverkäuferin mit Leib und Seele. Karina dagegen hat Schuldgefühle und Skrupel - wegen der Tierwohlgefährdung und so. Wenn sie ’nen toten Vogel sieht, denkt sie an ihre tote Oma, klagt sie. Sie klagt musikalisch, denn Emily Klinge kann toll singen – die trashigsten Songs bietet sie voller Inbrunst dar, und auch wenn das Stimmvolumen für eine Opernsängerin nicht reicht – versuchen kann man’s ja mal. Früher, als die Viecher es noch guthatten, bevor sie der Schlachtbank zugeführt wurden, sang nämlich noch die Callas im Schweinestall. (Heißt es eigentlich Kallas oder Tschallas? – Liebe Leute, der Nuran David Calis, den alles Kalis nennen, heißt in der Sprache seiner Eltern eigentlich auch Tschalis; wenn also die Callas Türkin gewesen wäre, hätte Karina vielleicht recht.)
Wie auch immer: Callas im Schweinestall ist nicht mehr. Und so mancher in der schlechten Welt von heute isst nicht mehr. Jedenfalls keine Cevapcici, keine Bulletten und keine Schweinesteaks. Frau Müller ist die einzige Kundin in Zarahs und Karinas florierendem Fachgeschäft. Und die kauft nie was. Dafür macht sie Zarah und Karina das Leben zur Hölle. Sie, die eigentlich wie eine etwas vertrottelte spitzzüngige Ruhrpott-Oma daherkommt, wahlweise wie eine durchgeknallte Miss Marple, ist nämlich ein kleines Teufelchen. Oder ein großes? Aus Angst vor dem Gesundheitsamt schließen unsere beiden Fleischfachverkäuferinnen den Laden ab und verstecken sich im Dunkeln unterm Tisch. Doch wer mit einem Kerzenset hereinkommt, ist nicht die Hygiene-Prüfung, sondern Frau Müller. Vielleicht, um testamentarisch festzulegen, nach ihrem Tode von den beiden Freundinnen zu Wurst verarbeitet zu werden. Vielleicht aber auch, um die beiden zu denunzieren. Oder ihre Konvertierung zur Vegetarierin anzukündigen.
Die letzte Kundin, die eh nie was kaufte, ist also weg, und ab geht’s in die Schweiz, wo ein naiver Bankangestellter, ein etwas dümmliches Kapitalistenschwein, kein Geld rausrücken will. Da es dort angeblich noch ein Schließfach mit Überresten von Rindvieh-Eltern in Form von Bündnerfleisch gibt, kann man den Bruch, den Zarah und Karina ausüben, eigentlich als Mundraub bezeichnen, oder? Jedenfalls reicht die Beute aus, um in die Südsee zu fliehen. Frau Müller soll derweil zu Wurst verarbeitet werden, was sicher keine schlechte Idee ist, denn die hat längst die Handtücher auf den Liegestühlen am Südseestrand ausgebreitet und bleibt als Bedrohung präsent. Ihre Stimme tönt aus den Wassern und den Winden und von allen vier Wänden des Schlosstheaters. Frau Müller, das Teufelchen, muss weg. Aber selbst wenn sie zur Hölle fährt, kehrt sie wenige Augenblicke später aus dem dampfenden Schlund des Hades zurück. Mit Luzifer ist nicht zu spaßen.
Unendlichen Spaß bereitet dagegen die Comedy von Rosa von Praunheim, die sensationellerweise am kleinen Schlosstheater Moers ihre Uraufführung erlebt. Matthias Heße und Emily Klinge als Fleischfachverkäuferinnen sind zwei wunderbare Drag Queens; Roman Mucha als alte Frau Müller ist eine grandios witzige, bösartige Schrulle. Die drei erweisen dem Urgroßvater der LGBTQ-Bewegung Praunheim mit ihrem Spiel eine großartige Reverenz. Praunheim traut sich in die tiefsten Tiefen des Kalauers und streut dann überraschend feinsinnige Sprachspiele in den derben, meist einfach strukturierten Text ein. Sein Stück steckt voller anarchischem Humor, voller Albernheit und Splatter. Die Handlung ist abstrus, die Dialoge sind hilariously funny, und Regisseur Damian Popp treibt die Absurdität am Schlosstheater Moers in abenteuerliche Höhen. Witzige Songs und parodistische Folklore-Tänze unterbrechen oder kommentieren die Handlung. Das ist Trash vom Feinsten, und dennoch wirkt die Aufführung dank der Schauspielkunst der drei Akteure und der Regiekunst des in der niederrheinischen Nachbarschaft aufgewachsenen Popp niemals billig. "Zwischen Wurst und Speck / geht meine Laune niemals weg", möchte man Zarah Chi Chi zustimmen.
Aber natürlich – wir sind in Moers, und der Autor heißt Praunheim – ist das Stück nicht einfach nur Trash und Comedy. Das Fleisch steckt zwischen den Knochen, wie die Dramaturgin Viola Köster in ihrer kurzen Premieren-Einführung anmerkt. Im krachledernen Humor versteckt Praunheim diskrete Hinweise auf gesellschaftliche Kontroversen. "Der Mensch braucht Fleisch, so wie die Wölfe und die Geier"? Da atmet der Rezensent, der selten ein fleischloses Solo auf dem Teller zu genießen weiß, tief durch. Raubtiere sind wir: „Wenn wir schon Tiere töten, ist es ja auch nicht mehr weit, bis wir Menschen töten“, glaubt Emily Klinges Karina und weist nonchalant darauf hin, dass in ihren Würsten sicher nicht nur Schweinefleisch steckt. Und das Kapitalistenschwein in der Schweizer Bank stellt so uncharmant wie ungerührt fest: "Eine Sau sieht aus wie die andere." – Wenn nicht alles täuscht, haben die Sauen auf der Bühne nicht minder Freude an dem Abend als die im Publikum.