Übrigens …

Respublika im Bochum, Jahrhunderthalle

Die Nacht kurz nach den Wäldern

Nicht zu glauben, was alles wieder möglich ist in spätpandemischen Zeiten! Mitten im riesigen Raum der Bochumer Jahrhunderthalle quetschen sich einander völlig unbekannte Menschen gemeinsam in eine Sauna, und in ein Sperrholz-Konstrukt, das als Fernsehzimmer dient, aber einem Wohnwagen ähnelt, kuscheln unzählige Zuschauer eng umschlungen mit den Performern über- und untereinander für den Sieg der freien Liebe. (In der vom Rezensenten besuchten Aufführung verließ eine der Performerinnen den Wohnwagen anschließend allerdings mit so stinkiger Miene, dass man den Verdacht nicht loswird, einer der Zuschauer könnte wohl vor lauter Liebe und Erregung die Grenzen des guten Benehmens nicht mehr eingehalten haben.) Aber: Man kloppt sich auch, man speist zusammen – und vor allem tanzt man. In dieser Nacht vom 17. auf den 18. September, der letzten Nacht der Ruhrtriennale 2022, tanzt man bis morgens zum Frühstück. Bis acht Uhr morgens, das sei zerknirscht gestanden, hat der Rezensent nicht durchgehalten.

Respublika ist als immersives Kunstereignis gedacht. Die Besucherinnen und Besucher können, gleich ob kultur- oder tanzwütig, nach Belieben teilhaben. Sie sollen hineinwachsen in die Gemeinschaft der Republik, von der an diesem Abend erzählt wird. Erst nach geraumer Weile wird man ein Gespür dafür bekommen, wer von den in der Halle herumwuselnden Menschen zu den professionellen Akteuren gehört und wer für seine Teilnahme Eintritt bezahlt hat. Damit man sich zurechtfindet, darf man erstmal ganz in Ruhe die Installation erkunden, die Fabien Lédé in die Jahrhunderthalle gebaut hat. Diese stellt die Gegebenheiten eines Experiments nach, dem sich die Gruppe des Regisseurs und Maître de Plaisir Lukasz Twarkowski im Jahre 2020 unterzogen hat: Für ein komplettes Jahr ist sie in die litauischen Wälder gezogen, um dort als eine Art sozialistische Kommune ein Gegenmodell zur kapitalistischen Leistungsgesellschaft zu entwickeln: mit Equal Pay in Form eines bedingungslosen Grundeinkommens sowie einer Neudefinition von Arbeit und sozialer Gemeinschaft. Lédés Installation baut das archaische, aber in Teilen durchaus technisch hochgerüstete Dorf im litauischen Wald nach, verschränkt es aber mit den notwendigen Einrichtungen für eine Theater-Performance. Da gibt es zum einen Ruhe- und Clubräume, eine Gemeinschaftsküche sowie die erwähnte Sauna inkl. einer nahen Dusche. All diese Räume dürfen von den Zuschauern mitbenutzt werden, solange sie nicht gerade aus dramaturgischen Gründen von den Performern blockiert sind. Falls Sie sich fragen, wer denn mitten im Theater unter reger Anteilnahme der übrigen Kulturbeflissenen in die Sauna geht: Das Teil war stets gut besucht, und manchmal gab es Warteschlangen. Auch war das Doppelbett im Schlafzimmer bereits beim ersten voyeuristischen Blick des Rezensenten durch ein gemütlich kuschelndes Pärchen belegt, von dem man nicht so genau wusste, ob es der Kategorie Zuschauer oder der der Kategorie Performer angehörte.

Wer Hunger oder Durst hat, kann mal schauen, ob vielleicht gerade gekocht wird: Eine überschaubare Anzahl von Zuschauern wird dann gerne mitverpflegt. Ansonsten kann sich die Besucherschar an zwei Bars stärken – die eine innen, mitten im Geschehen und mit halbwegs angenehmen Plastikstühlen ausgestattet, die andere draußen vor der Tür, wo es kalt ist, aber die Mucke nicht so laut dröhnt und Süchtige sich eine zichteln dürfen. Zum Reenactment des waldeslustigen Experiments gehört natürlich auch noch eine Handlung, oder sagen wir: gehören Gespräche. Die sind mal banaler, mal philosophischer Natur, wie das im Laufe eines Jahres so vorkommt. Auf zwei Leinwänden, aber auch im Fernsehzimmer lässt sich ein live während der Aufführung entstehender Film verfolgen, der sich aus vorproduzierten Elementen und aus von zahlreichen Kameraleuten eingefangenen Bildern aus der Halle zusammensetzt.

Action findet mal hier, mal da, mal überall statt – man ahnt es schon und bekommt es vorsichtshalber noch ein paarmal eingebläut: Niemand wird an diesem Abend alles sehen und alles verstehen können. Für den Überblick gibt es Panoramadecks (kaum genutzt an diesem Abend) und einen Waterfall Mountain, der auf der steilen Seite den grünen litauischen Wald nebst Wasserfall simuliert, sich auf der anderen aber als normale Theater-Tribüne entpuppt, die einen ungestörten Blick auf die besagten Leinwände ermöglicht. Zwischen Leinwand und ersten Sperrholzbuden ist ausreichend Platz zum Tanzen. Wer mag, tanzt in dieser Nacht von 19.00 h abends bis morgens um Acht. Die immersive Performance ist also das, was man zu Jugendzeiten des Rezensenten als Happening bezeichnete. What happens, ist ein Re-Enactment.

Denn das Experiment, das die Gruppe vor gut zwei Jahren im Wald durchgeführt hat, soll sich heute wiederholen – heute, das heißt 2025. Wir machen also einen Schritt in die Zukunft, obwohl die Gruppe sich selbstironisch als „psychonauts going back to the cave“ bezeichnet – zurückgehend in die Einsamkeit, Archaik und Wohlstandsferne der Wälder. Versucht die Gruppe ein Gegenmodell zum Kapitalismus zu schaffen, so diskutiert sie ein im Jahre 1973 durchgeführtes Experiment in einer kanadischen Kleinstadt, bei dem die Versuchskaninchen – wie 2020 die Respublika-Teilnehmer – ein bedingungsloses Grundeinkommen erhielten. Das, so heißt es, sei zwar kostspielig gewesen, jedoch seien sowohl die Arbeitsleistung als auch die Zufriedenheit der teilnehmenden Menschen angestiegen. Das Leben in vollständiger Bedürfnislosigkeit (mit Ausnahme der menschlichen Grundbedürfnisse, die zum Überleben wichtig sind), wird diskutiert: Die Philosophie von Diogenes in der Tonne sei in diesem Zusammenhang die vielleicht radikalste Utopie der menschlichen Geschichte. Es entstehen Träume – von einem Frankreich des Jahres 2050, das von einer Präsidentin geführt wird, die mutmaßlich nicht Le Pen heißt, denn sie nimmt bedingungslos Klimaflüchtlinge aus aller Welt in ihrem Land auf. Der Fortschrittsoptimismus von Descartes wird ebenso hinterfragt wie der absurd anmutende Fortschrittsglaube der Gegenwart; Diskussionen über Nachhaltigkeit und Klimawandel werden geführt (so wird – so häufig in der bundesdeutschen Diskussion vernachlässigt – darauf hingewiesen, dass die Bemühungen um eine Entwicklung des Wohlstands in den ärmeren Regionen der Welt den Zielen einer globalen Reduzierung des CO2-Ausstoßes diametral entgegenstehen), und in der Sauna sprechen zwei Frauen über den Wert des Menschenlebens. Das Ziel der Gewaltfreiheit trifft auf die Erzählung vom Diktator, der durch einen Killer getötet wird, ohne dass irgendjemand um ihn weint – man denkt unwillkürlich an das verbrecherische Regime von Putin und den Krieg in der Ukraine, obwohl Twarkowski ausdrücklich betont, es seien nach der Uraufführung in Vilnius im September 2020 keine neuen inhaltlichen Schwerpunkte gesetzt worden.

Nun wird im Verlaufe eines Jahres nicht nur über derart tiefschürfende politische und gesellschaftliche Probleme diskutiert. Manchmal macht man sich auch selber welche. Auch die werden nicht verschwiegen. Letztlich ist das Experiment des Jahres 2020 gescheitert. Die Gruppe geriet in Streit, wozu sicher auch Phasen von Lagerkoller und großer Langeweile beitrugen. In der Jahrhunderthalle fliegen die Fetzen; im Streit unterlegene Performer rutschen dem durch die Halle kreisenden Rezensenten schwungvoll in die Umlaufbahn. Die Diskussion über Gewaltfreiheit trifft also auch auf Gewalt innerhalb der performenden Gruppe.

Twarkowski berichtet, dass es Musik und Tanz waren, die die Gruppe immer wieder vereinte – trotz unterschiedlichster Musikgeschmäcker. So ist es die Musik, die auch dieses sechsstündige Kunstereignis dominiert und strukturiert. Stroboskoplicht und harte Soundscapes kündigen die sogenannten Pausen an, in denen jeweils zu Rave-Musik getanzt wird. Aber auch während der einzelnen Teile gibt es musikalische Untermalung, gemanagt von einem DJ, der vor den beiden Leinwänden agiert, und zahlreiche Besucher wiegen sich im Takt auf dem Dance Floor. In der Musik eher als in den – letztlich kaum zustande kommenden – gemeinsamen Gesprächen, den angeblichen gemeinsamen Erfahrungen beim Essen oder beim Aufenthalt in den Sperrholz-Zimmern mag es gelingen, dass einzelne Teilnehmerinnen und Teilnehmer sich als Teil eines großen, welt- oder bewusstseinsverändernden Experiments fühlen. Zweifel seien angemeldet. Letztlich erinnert der Sound an die Love Parade. Und tatsächlich geht die Performance nach vier Stunden über in eine lange Partynacht mit tollen Lichteffekten, in einem lauten, ekstatischen Rave. Die Welt verändern wird das nicht, transzendentale Erfahrungen, wie einmal vermutet wurde, wird in der Nacht kaum jemand machen.

Die Menschen seien in Anbetracht der zahlreichen gegenwärtigen Krisen hoffnungslos, behauptet Twarkowski in einem Interview. Während dieses Raves könnten sie vielleicht die Welt hinter sich lassen. Bestimmt sogar, möchte der Rezensent antworten. Aber selbst während des üblicherweise zweistündigen, heute noch wesentlich längeren Raves werden ab und zu politische Texte eingeblendet – bis hin zu Ausschnitten aus jüngeren Reden von Wolodymyr Selenskyi. Und so bleibt dieses Gesamtkunstwerk, so unterschiedlich es in seinen einzelnen Komponenten gelungen sein mag, als politisches Happening unvergesslich.