Übrigens …

Die Nacht so groß wie wir im Schauspielhaus Düsseldorf

Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt

Siebzehnuhrfünfzig: die Saaltür öffnet sich, von der Bühnenkante starren zehn junge Menschen unbeweglich auf das hereinströmende, ungewöhnlich junge Publikum, das den Saal im Kleinen Haus am Düsseldorfer Schauspiel komplett füllt. Alle zehn tragen seidigglänzende Sportdresse: zwei rot, zwei grün, zwei blau, zwei lila, zwei pink. Dazu weiße Sneakers mit offenen Schnürsenkeln. Wer sich informiert hat, weiß, dass die jungen Leute keine Profis sind, sondern für dieses Schauspiel vom Stadtkollektiv gecastet und zusammengeführt wurden. Gespielt wird die Adaption des preisgekrönten Jugendromans Die Nacht so groß wie wir von Sarah Jäger, eine Initiationsgeschichte, die die Berliner Regisseurin Salome Dastmalchi zusammen mit den zehn Jugendlichen im Alter von vierzehn bis zwanzig Jahren für die Bühne entwickelt hat.

Das Bühnenlicht geht an und gibt den Blick frei auf einen rechteckigen schmutzigweißen Raum, der von drei großen Stufen begrenzt wird und mit Spielfeldmarkierungen am Boden und von der Decke herabhängenden Ringen eine Turnhalle andeutet. Hier in diesem spärlichen Ambiente soll abends ein Abiball stattfinden. Doch vorweg wird die morgendliche Zeugnisausgabe eingeblendet.

Nacheinander erheben sich die jungen Leute vom Bühnenrand, binden ihre Schnürsenkel zu und begeben sich zur imaginierten Zeugnisausgabe durch den „Alten Mann“, wie der Direktor herablassend genannt wird. Im Roman sind es fünf Betroffene: die Mädchen Maja und Suse und die Jungen Pavlow und Tolga, die das Abitur bestanden haben, und Bo, der gleichfalls zur Clique gehört, der es nicht geschafft hat. Es dauert einen Moment, bis klar wird, dass alle Fünf doppelt besetzt sind, zumal bei der Rollenverteilung (ganz im Sinne der aktuellen Genderdiskussion) nicht auf das Geschlecht geachtet wird. Gegen die Irritation, die sich immer mal wieder einschleicht, hilft die Gleichfarbigkeit der Anzüge: Suse zweimal blau, Tolga zweimal rot usw.

Bevor sich die Fünf (Zehn) zum Abiball begeben, treffen sie sich noch in ihrer Stammkneipe, der Penne. Dort amüsieren sie sich zunächst über den Abschiedssatz des Direktors, der davon sprach, sie ins „Erwachsenenleben“ zu entlassen. Dann aber wird ihnen der Einschnitt in ihr Leben, die Bedeutung dieser Nacht bewusst. „Kapiert ihr nicht? Das ist die Nacht, in der wir sterben müssen. Vom Ungeheuer verschlungen und dannwiedergeboren!“ skandieren sie im Chor und beschließen, nicht zur Abifeier zu gehen, sondern sich ihren eigenen „Ungeheuern“ zu stellen: Initiation durch Wahrheit und Bekenntnis. Dabei sind sie sich sicher, dass das nur ohne die sie umgebenden „Erwachsenen“ möglich ist, denn die sind „zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Oder zu schwach, zu alt, zu tot.“ (Die Klischees gehen durch.)

Die Ungeheuer, die zu Tage kommen, sind facettenreich: da ist der unverarbeitete Unfalltod des Vaters neben der eigenen Sprach- und Hilflosigkeit oder einer geheim gehaltenen schweren Krankheit. Maja plagt die Sorge, das Falsche getan zu haben, als sie die Abstimmung für die Form des Abiballs manipulierte. Damals im „guten Glauben“. Dramatisch wird es bei Pavlow, der immer wieder betont, nicht der „Hund“ zu sein. Irgendwann muss er sich mit dem berühmten Konditionierungsexperiment befasst haben. Und dann ist da das Problem mit dem treulosen Vater, der eine neue Familie gründete und Pavlow vergas. Sie verwüsten sein neues Heim und „klauen“ sein Auto. Das alles geschieht erzählend, ohne Requisiten in körperlich angedeutetem, emotional ergreifendem Spiel.

Am Ende verkehrt sich jedoch, was als Selbstfindung und Freundschaftsbeweis gedacht war, dynamisch ins Gegenteil. Mit zwei Stunden Verspätung erscheint ein Teil der Gruppe doch noch auf der Abifeier in der Turnhalle, die jetzt von einem bunten Sternenhimmel überwölbt ist. Aus dem Tumult heraus kommt es im Geräteraum beinahe zu einer Vergewaltigung. Suse, der es immer schwer fiel „Nein“ zu sagen, rettet sich verzweifelt aus der Situation. In der Inszenierung läuft zu dieser Szene die Musik aus „Pomp and Circumstance“ von Edward Elgar, Marschmusik, die in den USA an vielen Schulen zur Zeugnisvergabe gespielt wird. Da tut sich ein breiter Interpretationsraum auf. Alles ist möglich. Am Ende steht die Gruppe wieder vor der Penne: alle Tische und Stühle sind noch frei. „Wir wissen noch nicht, wohin wir uns setzen sollen“. Es klingt, als meinten die jungen Leute das nicht nur im Spiel.

Das Publikum ist ergriffen und begeistert. Es applaudiert mit Standing Ovations.