Rache an einem Tier
„All hands on deck!“, heißt es in Düsseldorf immerzu, wenn Käpt’n Ahab seine Mannschaft zusammenruft. Unwillkürlich fällt einem einer der schönsten Songs aller Zeiten ein. „Echo and the Bunnymen“ haben ihn gesungen. Es ist ein Song voller Sehnsucht, Melancholie und Schwermut. „All hands on deck at dawn / Sailing to sadder shores / Your port in my heavy storms / Harbours the blackest thoughts.“
Ahabs schwarze Gedanken sind Rachegelüste. Moby-Dick, der sagenumwobene weiße Wal, hat ihm auf seiner vorherigen Reise ein Bein abgerissen. Schnell wird klar, dass es bei Ahabs nächster Fahrt nicht um Walfang und Lebertran, nicht ums Geschäft oder um das Bezwingen der Meere geht, sondern um Rache. Starbuck, der Erste Steuermann, ist der erste, der das begreift und der die Auswirkungen solch egomanischer Motivation ahnt: „Rache an einem Tier - das ist Gotteslästerung.“ Tatsächlich ist Eduard Linds Starbuck in Robert Gerloffs Inszenierung am Jungen Düsseldorfer Schauspiel der differenzierteste Charakter.
Zuvor mit Lob überschüttet als umsichtiger, mutiger, hochprofessioneller Walfänger, hat Ahab sich gewandelt. Starbuck weiß: Der Kapitän ist unter die Irren, die Geisteskranken gegangen. Der Wal wird dämonisiert; alles Böse dieser Welt scheint Ahab in Moby-Dick verkörpert. Starbuck bleibt loyal, sucht jedoch das kritische Gespräch. Für einen kurzen Moment sieht es einmal so aus, als würde der Kapitän begreifen. Doch seine Kränkung durch das Tier ist zu stark für seinen Verstand: „Es gibt einen Gott, der Herr ist über die Erde. Und es gibt einen Käpt’n, der Herr ist über das Schiff“, herrscht er seinen Steuermann an. Ahab, benannt nach dem bösen, gotteslästerlichen und arroganten König des Alten Testaments, begreift nicht, dass Gott stärker ist als der Mensch, dass die Natur stärker ist als das Schiff. Wer sich mit der Natur anlegt, wer sich gar über die Natur erhebt, verliert. Der Klimawandel sei unser Zeuge.
Der Harpunier Queequeg, ein indigener Naturbursche, mit dessen Definition sich angesichts eines keine Werktreue mehr zulassenden Zwangs zur politischen Correctness sowohl Hans Dreher in Bochum als auch Robert Gerloff in Düsseldorf schwertun, wird in Düsseldorf von Eva Maria Schindele geschickt als zupackender, pragmatischer, umstandslos den Willen höherer Mächte akzeptierender Geselle interpretiert und ist das positive Gegenbeispiel zur Selbstüberschätzung und Überheblichkeit Ahabs. Proaktiv krabbelt der sich todkrank fühlende Queequeg freiwillig in den Sarg. Doch seine Qualen weichen dem Qualm, der aus der Totenkiste dringt, als Queequeg quietschfidel wieder aufersteht: „Die Krankheit kann den Menschen, der zum Leben entschlossen ist, nicht umbringen. Nichts kann das. Außer dem Wal. Und dem Sturm.“ Der naturverbundene Queequeg weiß: Lebenswille ist lebensverlängernd. Aber sich gegen die Natur aufzulehnen, ist zwecklos.
Robert Gerloff und sein Dramaturg David Benjamin Brückel haben aus Melvilles Roman eine sowohl für die jugendliche Zielgruppe ab 12 Jahren als auch für Erwachsene konsumierbare Textfassung erarbeitet, in der all diese Gedanken klar zum Ausdruck kommen. Doch ihnen wird sehr wenig Raum gegeben. Die Regie drückt permanent auf die Tube; die Inszenierung ist laut, überbordend, temporeich. Musik und Sounddesign unterstützen die spannende Atmosphäre. Der Höhepunkt, in der vom Rezensenten besuchten Vorstellung von einigen wissenden Kindern im Publikum schon vorher herbeigesehnt, ist der (beinahe) tödliche Sturm, der in eine großartige, wilde Wasserschlacht ausartet. Stroboskoplicht blitzt; Auftritte mit Fackeln im Dunkel der Nacht und der häufige Einsatz der Nebelmaschine sorgen für spookige Szenen. Viele Passagen werden chorisch gesprochen (um nicht zu sagen geschrien) und sind dann leider akustisch schwer zu verstehen, weil Gerloff absichtsvoll die Präzision griechischer Chöre vermeidet und auf der Bühne nicht Schleef’sche Exerzitien vollführen, sondern aufgeregte Seefahrer um Aufmerksamkeit buhlen lässt. Wir sind im Jugendtheater - nahtlos gehen die aufgeregten, dramatischen Szenen ineinander über. Vielleicht würden aber auch Jugendliche schätzen, was manchen Erwachsenen fehlt: ein wenig Zeit zum Innehalten, ein paar Sekunden Pause, der eine oder andere leisere, nachdenkliche Moment. Die vielen lyrischen Passagen des Texts werden zwar dankenswerterweise nicht unterschlagen, aber sie werden hinausgebrüllt, so dass die Poesie von Melvilles Text verloren geht.
Sailing to sadder shores? Ismael, der Ich-Erzähler (Natalie Hanslik), und Ahab (Jonathan Gyles) wissen, was das heißt. Ismael hat angeheuert, um seiner Melancholie zu entfliehen, und von Ahab heißt es, er sei „auch mal schwermütig“. Das sind Begriffe, die im 19. Jahrhundert für Depressionen standen, ein Leiden, das damals noch kaum erforscht und kaum anerkannt war, und die Gerloffs Inszenierung explizit erwähnt. Gezeigt werden Ismaels Melancholie und Ahabs Schwermut nicht. Gezeigt wird ein rasantes Abenteuerstück. Das ist eine ganze Menge. Aber es hätte - insbesondere in Anbetracht der zugrundeliegenden, sehr gelungenen Textfassung - mehr sein können.
Hans Drehers Inszenierung des gleichen Stoffs am Prinz Regent Theater Bochum benötigt fast eine halbe Stunde länger für eine Szenenfolge, die der Düsseldorfer Fassung überraschend nahekommt. Sein Ensemble findet daher zu mehr Ruhe und Nachdenklichkeit. Zwar richtet sich die Bochumer Aufführung nicht ausdrücklich an Jugendliche, aber wie ihr Düsseldorfer Pendant erscheint sie sowohl für jüngere Zuschauer als auch für Erwachsene konsumierbar, wenn auch insbesondere die ein junges Publikum ansprechenden Effekte fehlen. Stattdessen liegen Effekte ganz anderer Art in Video-Animationen von Patrick Praschma, wie sie bereits Drehers Erfolgs-Inszenierung von Goethes Faust bereichert hatten. Sie zeigen die stolze Pequod ebenso wie moderne Yachten; im Heimathafen sehen wir eine Walfänger-Kneipe und eine Walfänger-Kirche, in der Lea Kallmeier eine Predigt zur Geschichte von Jonas im Bauche des Walfischs hält; undramatischer als in Düsseldorf, aber nicht minder bedrohlich visualisieren die Videos Regen und Sturm, und immer mal wieder darf sich das Publikum an allerliebsten Disney-Bildern von der Lebenswelt des weißen Wals erfreuen: an bunten Fischen, aber auch an einem Schiffswrack tief unten am Meeresgrund. Dorthin sinkt auch die Pfeife des Kapitäns, der die Ruhe und Gelassenheit, die eine solche Pfeife symbolisieren mag, verloren hat.
Ahab ist zwar ein Choleriker, doch gelingt Matthias Hecht eine differenzierte Charakterzeichnung des Kapitäns. Sein Rachedurst paart sich mit Momenten von Lebensüberdruss. So wird die in Düsseldorf nur behauptete Schwermut des Schiffsführers beglaubigt. Bei seinem ersten Auftritt quert er nur einmal die Bühne von rechts nach links - und verändert dennoch die Atmosphäre im Raum, unterstützt vom klopfenden Sound von Dennis Philipp, der dem Geräusch ähnelt, das in Düsseldorf das jeweilige Erscheinen des Wals begleitet. In seiner Koje leidet Ahab an dem Schmerz seiner Beinverletzung, vielleicht aber auch der Verletzung seines Egos, und man spürt: Dieser Schmerz (oder diese Kombination von Schmerzen) hat Starrsinn in Irrsinn verwandelt und Hass und Rachegelüste geschürt. Psychologisch ist die Figur des Ahab also deutlich besser als in Düsseldorf unterfüttert, wo Ahab zwar ein cholerischer Anführer ist, aber weder sein Irrsinn noch seine Schwermut nachhaltig zu spüren sind.
Mit Ausnahme von Ahab bleiben bei Dreher alle Figuren namenlos. Queequeg ist gestrichen; die Figur der Harpunierin (zwischenzeitlich neu besetzt durch Lea Kallmeier) vereint vermutlich Züge verschiedener Charaktere aus Melvilles Roman, ist jedoch deutlich geglättet und hinterlässt wenig nachhaltige Eindrücke. Starbuck und Ismael dagegen bleiben klar identifizierbar. Wie aus dem Heute ins 19. Jahrhundert hineingeschneit wirkt Jonny Hoffs herausragend gespielter Ismael: ein sympathischer Junge von heute, der sich bei Abschluss seines Arbeitsvertrages erstmal nach dem Anwendungsbereich der Künstlersozialkasse erkundigt und die Sozialversicherungsnummer vorlegen will. Wird er nun befristet oder unbefristet angestellt? Na, legen wir doch den Arbeitszeitraum auf „circa 3 Jahre oder bis zum Tod“ fest, „je nachdem, was als erstes kommt.“- Mit seiner Zwitterstellung zwischen Heute und 1837 steht Hoff auch für viele der humorvollen Momente der Inszenierung.
Auch Dreher, der die flotte Übersetzung von Matthias Jendis nutzt, konzentriert sich auf die Abenteuergeschichte, für die neben Ahab und dem Wal der verwegene, raue, aber auch nachdenkliche Oliver Möller als Steuermann (Starbuck) steht. Aber er traut sich auch an die schwierigen, auch beim Lesen wie Störer wirkenden sachbuchartigen Passagen heran, in denen Melville mitten im Roman ein Lehrbuch und Lexikon des Walfangs erstellt, und es ist beeindruckend, dass es den Schauspielerinnen und Schauspielern gelingt, auch diese Passagen spannend und abwechslungsreich zu gestalten. Auch die Poesie kommt in Drehers Inszenierung nicht zu kurz, was sich vor allem in einem Vergleich zur spannenden, überbordenden und noch in der Mauerschau rasanten Düsseldorfer Schlussszene zeigt. In Bochum gerät das Ende ruhig und besinnlich. Allein bläst Ahab zur finalen Jagd auf den Wal, auf das weiße Tier, dessen Farbe, wie wir sowohl in Düsseldorf als auch in Bochum erfahren, so unterschiedliche Bedeutungen in sich vereint. Lea Kallmeier taucht im weißen Brautkleid auf. Im Roman verheddert sich Ahab im Seil seiner Harpune. An den Körper des Wals geschmiegt, geht er mit diesem unter. Man mag das betrachten als eine Vermählung mit dem Feind, der das Leben des Kapitäns zuletzt bestimmt hatte. Vielleicht ist es aber auch ein weißer Totenengel, der Ahab in Bochum zärtlich in seinen Schoß bettet. War es nicht Ahab gewesen, der zuvor gepoltert hatte: „Ein Engel ist eigentlich auch nichts anders als ein Hai, der sich im Zaum hält“?