Dorian im Schauspielhaus Düsseldorf

Narziss und Straßenkater

Ganz explizit nimmt Dorian Gray, Modell für den Maler Basil Hallward, in Oscar Wildes Roman Das Bildnis des Dorian Gray Bezug auf den antiken Mythos von dem Jüngling Narziss, der sich in sein eigenes Spiegelbild verliebte. Dorians Wunsch nach ewiger Jugend geht in Erfüllung. Anstelle von Dorian altert dessen Abbild – es zeigt zunehmend Züge seines Hochmuts, seiner Heuchlerei und einer gewissen Verderbtheit. Das ist eine narzisstische Kränkung. Dorian ermordet den Schöpfer dieses Bildes. Als Dorian aber das Bild selbst zerstört, stirbt auch er.

Auch Oscar Wilde, der Schöpfer von Basil Hallward und Dorian Gray, war ein Narzisst. Ein Genie ohne Zweifel, ein Liebling der Londoner Gesellschaft, ein Provokateur - und der Inbegriff eines Dandys. Hochmütig war auch er - zumindest in der von ihm hochprofessionell orchestrierten Selbstdarstellung. Einerseits ein verheirateter Familienvater, lebte er andererseits in für das späte 19. Jahrhundert ungewöhnlich offener Form seine homosexuellen Neigungen aus. Seine Verleumdungsklage gegen den Vater seines langjährigen Geliebten wurde zum Bumerang: Sexualkontakte zu männlichen Prostituierten und anderen jungen Herren aus dem Londoner Prekariat wurden offenkundig; in weiteren Prozessen wurde Wilde zu einer Haftstrafe wegen Unzucht verurteilt. Mittellos und mit durch die Haft zerrütteter Gesundheit starb er im Pariser Exil.

Auch George Dyer starb in Paris. Dyer „fiel (einst) durch das Fenster, und das gab ihm neues Leben", wie es gleich in der ersten Szene von Darryl Pinckneys assoziativem Ein-Personenstück heißt: Der Kleinkriminelle war von dem Maler Francis Bacon dabei überrascht worden, wie er durch ein Oberlicht in dessen Atelier einbrach. Zur Beute wurde der Einbrecher selbst: Er fungierte fortan als Bacons Modell und Geliebter. Ob der soziale Aufstieg ihm Glück brachte? Nun ja - Bacon war Genie, Provokateur und Choleriker. Vom Maler immer wieder gedemütigt, nahm sich Dyer am Tag vor der großen Retrospektive des Malers im Pariser Grand Palais, die dazu auserkoren war, den Höhepunkt von Bacons künstlerischer Karriere bilden, das Leben. Ein Selbstmord als Akt der Rache?

Oscar Wilde, Dorian Gray, Francis Bacon – sie waren allesamt Egozentriker, Narzissten wohl auch. Und welcher Schauspieler wäre nicht bis zu einem gewissen Grade ebenfalls Narzisst? Christian Friedel, im wahren Leben ein ausgesprochen sympathischer und nahbarer Schauspieler, wie der Schreiber dieser Zeilen bezeugen kann, gibt den Narzissten und Dandy so charismatisch und überzeugend, dass er im Vorübergehen zum Liebling der Düsseldorfer Gesellschaft avanciert: ein Genie, aber kein Provokateur, sondern stets im Dienste seiner Meister Wilson und Pinckney. – Oscar Wilde, der sich im Rotlichtbezirk tummelt, Dorian Gray, der in einer Opiumhöhle Zuflucht sucht, George Dyer, der immer wieder aus der Umarmung von Bacon flieht und frühere schlechte Gewohnheiten annimmt – „Alley Cats“ sind sie alle miteinander, Straßenkater, die jede Nacht auf die Pirsch gehen auf der Suche nach neuem Spaß. „He goes on the prowl each night / Like an alley cat / Looking for some new delight / Like an alley cat“, singt Christian Friedel, und die wunderbaren Woods of Birnam spielen dazu.

Die Ich-Bezogenheit wächst den Figuren über den Kopf und endet im Unglück. Wilde, Gray und Dyer haben viel zu frühe, teilweise auch mysteriöse Tode ereilt, und sie leiden unter Todessehnsüchten unterschiedlicher Art. „Er ging im Feuer. Er glaubte alles, was seine Angst ihm sagte“, heißt es einmal in Darryl Pinckneys Text. Dieser Text steckt voller großartiger Formulierungen, aber Sie werden ihn – großes Indigenen-Ehrenwort - nicht verstehen – intellektuell zumindest nicht: Er stellt eine Art Gedankenstrom dar - einen Gedankenstrom allerdings, der vielerlei (meist verfremdete) Zitate aus Wildes Das Bildnis des Dorian Gray und aus den Gerichtsakten des „Unzucht“-Prozesses gegen Oscar Wilde beinhaltet und ansonsten Motive aus Wildes und Bacons Biografien sowie aus Briefen des Schriftstellers an seinen Geliebten Alfred Douglas verarbeitet. Eine Inhaltsangabe zu versuchen, ist ein aussichtsloses Unterfangen. Viel ist von Liebe und Hass die Rede, die man (siehe Bacon / Dyer) ja auch schon mal verwechseln kann, von Einsamkeit auch – und von Gewalt. Pinckney selbst, geboren 1953 als Sohn einer der Mittelschicht angehörigen amerikanischen Bürgerfamilie, ist ein schwarzer Homosexueller, so dass naheliegend wäre, wenn er auch eigene Erfahrungen in seinen Text hätte einfließen lassen. Er lässt die Figuren von Wilde, Gray (vielleicht auch Basil Hallward), Dyer und Bacon so sehr miteinander verschmelzen, dass man sich dem Inhalt eigentlich nur assoziativ nähern kann.

Dabei unterstützt Christian Friedel nach Kräften und Regisseur Robert Wilson zumindest ansatzweise: Das Bühnenbild des ersten Teils erscheint so gar nicht wilsonhaft: Ein Atelier schält sich aus der Dunkelheit, vollgemüllt bis zum Geht-nicht-mehr. Das ist nicht Wilson mit seinen üblichen in edles Licht getauchten, farblich perfekt harmonierenden, oft in Pastelltönen gehaltenen Flächen: Das ist Bacon, dessen Atelier bekanntlich ein unfassbares Chaos ausstrahlte. Was an Kunstwerk übrig blieb, erinnert irgendwie an Jackson Pollocks Action oder Drip Paintings, aber man erinnere sich: Wild mit Farbe bespritzte Fotografien, Zeitungs- und Zeitschriftenausschnitte fanden sich angeblich auch in Bacons Atelier, vielleicht nicht als Kunstwerke gedacht, aber als Ausweis seiner chaotischen Arbeitsmethode. Natürlich wäre Wilson nicht Wilson, wenn nicht schon dieses erste Bühnenbild zumindest ansatzweise ästhetisiert wäre. Nach 35 Minuten, in den Akten 2 und 3, ist das Chaos aufgebraucht, und der Meister wird auffahren lassen, wofür er berühmt ist: ein spektakuläres Son-et-Lumière-Kunstwerk. „Das Licht ist ziemlich vollkommen“, sagt Dorian einmal. Mit dem Licht fängt für den Meister Wilson jede Inszenierungs-Arbeit an.

An diesem Abend aber wird Wilson von seinem Protagonisten übertroffen. In einer virtuosen One-Man-Show schafft Christian Friedel die Quadratur des Kreises: Er kombiniert die Wilson’sche Künstlichkeit, das Artifizielle von Text und Regie mit grandiosen Entertainer-Fähigkeiten. Er singt, tanzt und steppt, mal ist er eine Gliederpuppe, mal trauriger Clown, und – nicht, dass Sie denken, der Abend bestehe nur aus Musik und Tanz – er packt ein unglaublich dichtes Repertoire an schauspielerischen Fähigkeiten aus und fesselt den großen, 761 Zuschauer fassenden Saal bis in die hintersten Reihen. Beim Blick in den Spiegel, der natürlich in Wilsons Bühnenbild nicht fehlen darf, muss sich dieser Mann doch in sein Spiegelbild verlieben!