Übrigens …

Das Gesicht des Bösen im Schauspiel Essen

Raubtierkapitalismus im Rüstungskonzern

Früher war sie jung und grundsätzlich links, und weil das gerade „in“ und ein gesellschaftliches Anliegen war, wollte sie ein kapitalismuskritisches Stück schreiben. Leider wusste sie nichts Genaues darüber, außer dass „Kapitalismus“ ein Kampfbegriff der Generation ihrer Eltern war. Jetzt ist sie nicht mehr ganz so jung, aber immer noch in den besten Jahren; sie will immer noch über den Kapitalismus schreiben und hat dazu schon mal bei einem Hedge Fonds Manager recherchiert. Natürlich ist sie immer noch links. Sehr links, sagt sie – ohne rechte Überzeugung. Sie trägt ein goldenes Schleppenkleid und sieht aus, als sei sie gleich bei Baron Oppenheim zur Dinnerparty geladen. Auf dem kleinen Tischchen neben ihr steht das Modell eines feuerroten Ferrari. Janina Sachau, die Autorin, weiß jetzt eine Menge über den Kapitalismus. Gutes wie Schlechtes. Theorie und Praxis. Über sein böses Gesicht und seine vorgeblichen Wohltaten. Manchmal ist das ziemlich abstrus zusammengedacht. Janina Sachau präsentiert das, was sie weiß und was sie nicht weiß, mit großer Souveränität in recht schwierig zu sprechenden Monologen. Meist ironisch oder selbstironisch - manchmal weiß man beim besten Willen nicht, was ernst gemeint ist und was nicht. Später schleppt sie einen respektablen Dinosaurier- (oder Krokodil-) Schädel an, der verdammt scharfe Zähne bleckt. Auf der Schädeldecke blinkt ein Blaulicht. Achtung, Raubtierkapitalismus!

Steht die von Janina Sachau gespielte Autorin (im Originaltext ein Autor) für das Alter Ego von Nis-Momme Stockmann? Man weiß es nicht. Jedenfalls betonen beide, die fiktive Autorin und der reale Autor der am Schauspiel Essen elf Monate nach der Frankfurter Uraufführung nachgespielten kapitalismuskritischen Komödie Das Gesicht des Bösen, dass erstens ein Theaterstück über den Kapitalismus gar nicht so leicht zu schreiben und zweitens der Begriff Kapitalismus gar nicht so leicht zu fassen sei. Stockmann hat deshalb nicht nur Monologe für eine selbstironische kapitalismuskritische Autorin geschrieben, sondern auch ein veritables Stück. Das nimmt immer zwischen den Monologen der Autorin seinen Lauf. Oder sagen wir besser: Es steht im Zentrum, wird aber immer mal wieder von Autor*innenmonologen unterbrochen.

Der Autorin gehören im Hinblick auf ihr Thema ein paar schwer zu fassende Theorie-Anteile, die letztlich wie befürchtet nirgendwo hinführen. Was aber der Kapitalismus mit den Individuen macht, zeigt die Binnen-Handlung, das kleine Stück, das auf engstem Raum spielt und in das die große weite Welt allenfalls einmal als Erinnerung oder als Mauerschau eintritt. Der Raum ist enger als Sie glauben: Einen veritablen, funktionsfähigen Aufzug hat Ausstatterin Friederike Külpmann bei der Bühnentechnik in Auftrag gegeben, und nun prangt er inmitten der Casa, einer ziemlich kleinen Spielstätte. Zwei Angestellte eines Rüstungskonzerns sind auf dem Weg nach oben – einerseits in den 85. Stock, andererseits zumindest im Falle des Herrn Schwarz auch auf der Karriereleiter. Hofft er jedenfalls - wünschen wir ihm, dass die Leiter besser trägt als der Lift: Denn der bleibt plötzlich stehen. Alle paar Stunden sackt er sogar unter eindrucksvollem Getöse wieder ein paar Meter ab. Panik bricht aus – bei Schwarz zumindest. Mit irrem Blick umklammert er seinen Koffer und beginnt – an Hämophilie leidend - zu bluten. Offenbar gilt es, im Koffer befindliche Dokumente vor dem Zugriff der Behörden in Sicherheit zu bringen, denn sie enthalten wohl Hinweise auf kriminelle Machenschaften des Rüstungskonzerns. (Stockmanns Stück wurde bereits vor dem 24. Februar 2022 geschrieben und veröffentlicht, und damals waren Rüstungskonzerne noch böse!) Tief unten in den Straßen der Stadt sammelt sich die Polizei. Wollen die nur eine Demo auflösen oder stürmen die schon das Gebäude?

Was nun angesagt wäre, wäre Solidarität im Aufzugschacht. Solidarität aber, glaubt Stockmann vermutlich, ist im Kapitalismus nicht anzutreffen. Der Angestellte Schwarz ist nicht solidarisch, sondern karrieregeil, und er glaubt an eine Beförderung, falls er die Dokumente pünktlich und unversehrt auf der Chef-Etage abliefert. Er tritt nach unten, buckelt nach oben; seine bedingungslose Erfolgsorientierung bei gleichzeitiger Obrigkeitsgläubigkeit hat ihn nervenschwach gemacht und sozial isoliert. Der Angestellte Blau ist gemütlicher und gelassener. Er verfügt über einen abgeklärten, hintergründigen Humor und lässt sich von solchen Lappalien wie einem steckengebliebenen Fahrstuhl nicht aus der Ruhe bringen. Bis dass ihn sein Verdauungsapparat quält und sich als einziger Ausweg für seine Not ein kräftiger Schiss in Schwarzens Dokumentenkoffer anbietet... Der Angestellte Blau wird zumindest nachdenklich, als er erkennt, dass das Unternehmen offenbar gesetzwidrig handelt und – vielleicht - militärische Krisen befeuert. Ob er zum Whistleblower werden könnte? Ob er und Schwarz die mehr und mehr eskalierende Situation im Aufzug überhaupt überleben? - Die Antwort auf Frage 1 kennen wir nicht, und die auf Frage 2 verraten wir nicht. Schwarz aber versucht das Unternehmen noch im Todeskampf zu schützen. Den Konzern dagegen interessiert es einen feuchten Kehricht, dass seine Angestellten in Lebensgefahr schweben. Achtung, Raubtierkapitalismus: „Glauben Sie, dass das hier ein Kannibalismus-Ding wird?“, fragt Blau schon früh.

Man begreift, was Stockmann sagen will, wenn er behauptet, der Begriff des Kapitalismus sei schwer zu fassen uns sein System schwer darzustellen. Vielleicht ist es gar nicht das Wirtschaftssystem, das böse ist. Vielleicht ist es das Wertesystem, das der Kapitalismus vielen Menschen einzuimpfen scheint, das nicht stimmt. Schwarz ist vom Kapitalismus bereits vollkommen korrumpiert. Bei Blau wäre vielleicht noch was zu retten. Aber er scheint eher antriebsschwach und angepasst zu sein, hat sich eingerichtet. Wie wir miteinander umgehen, wie wir Werte strukturieren – das sei es, worum es in seinem Stück eigentlich gehe, sagte Stockmann in einem Interview mit der FAZ. Eine Neustrukturierung unseres Wertesystems ist es wohl auch, was die Welt braucht. Vielleicht funktioniert ja dann auch der Kapitalismus. Lange nichts mehr von dem Begriff „Soziale Marktwirtschaft“ gehört…

Menschen, die im Fahrstuhl eingeschlossen sind – das ist ein wiederkehrendes Motiv vor allem in der Filmwelt. Es ist die Ausgangssituation entweder für einen Thriller oder für eine Komödie. Jens Winterstein als Blau und der manchmal etwas zu laute Stefan Migge als Schwarz schlagen hochkomödiantische Funken aus ihren Dialogen. Im Verein mit Janina Sachau hat Regisseur Tobias Dömer ein schauspielerisch großartiges Trio auf die Bühne gestellt. Das Stück bringt – siehe oben – seine Botschaft klar und deutlich über die Rampe, auch wenn der etwas merkwürdige Schluss (die Autorin wandert mit ihrem ebenfalls durchaus ambivalent zu beurteilenden Vater durch Wald und Flur und findet so zur Ruhe, bricht dann aber mitten im Satz ab und wird von einem Pfleger in weißer Psychiatrie-Kleidung hinaus gewunken), etwas esoterisch wirkt. Aber so recht überzeugen kann die Zweiteilung in ironische, teilweise auch sarkastische und reflektierende Monologe und bisweilen schon slapstickartige Komödien-Handlung nicht. Die verbalen und physischen Prügeleien im Aufzug und die ironischen Theorie-Teile finden nicht zusammen; und wenn über gefühlte 20 Minuten sich Blut und Scheiße mischen und über Kleidung, Haut und Koffer ergießen, generiert das bei einem großen Teil des Publikums zwar viele Lacher, aber es lenkt mit seiner Nähe zum Boulevard vom eigentlichen Sujet des Stückes ab. Stockmanns Stück-Idee ist originell, aber auf der Bühne funktioniert sie nur partiell.