Übrigens …

Brennen im Bunker K101 Köln

Nein gesagt

Noch warten wir stehend auf den Beginn der Vorstellung. Esin Eraydin ist schon anwesend. Sie wandert im Raum herum, blickt dem einen oder anderen Besucher intensiv in die Augen, murmelt der einen oder andern Zuschauerin Satzfetzen zu. Blickt man durch die halb verstellten Öffnungen in der Wand zum Nachbarraum, so liest man dort an die Wand projizierte Sätze: „Hoffnungen tragen keine Fesseln.“ – „Das Glück schuldet mir noch einiges.“ – Oder: „Wer keine Handschellen getragen hat, kann den Wert der Freiheit nicht ermessen.“

Esin Eraydin hat reichlich Erfahrung mit dem Tragen von Handschellen. Die Schauspielerin, Autorin und ehemalige Intendantin des Theaters Artiist Fikir Sanat in Istanbul wurde nach dem Aufstieg des türkischen Diktators Erdogan viermal inhaftiert. „Lieder über die Freiheit“ hatte sie gewagt zu inszenieren, Heiner Müllers „Zement“, zuletzt Dario Fos und Franca Rames Frauenmonologe „Ich, Ulrike, schreie“ – die RAF-Terroristin Ulrike Meinhof prangert in Fos / Rames Text Missstände in Staat und Gesellschaft an. Eraydin verlor ihr Theater und wurde wegen kommunistischer Propaganda, Beleidigung des türkischen Staats und seines Präsidenten Recep Tayyip Erdogan sowie zuletzt wegen indirekter Propaganda für eine Terror-Organisation angeklagt. Nach einer Verurteilung zu einer langen Haftstrafe floh sie aus der Türkei; seit 2019 arbeitet sie als freischaffende Theatermacherin in Köln, der Stadt, in der sie auch aufgewachsen ist. Sie steht angeblich noch immer als Staatsfeindin auf einer schwarzen Liste des türkischen Staats. Wer zur Premiere ihres neuen Projekts Brennen anreiste, musste sich von Sicherheitspersonal durchsuchen lassen.

Was zum Stücke passt: Schließlich gehen wir zu Besuch ins Gefängnis. Lichtlos und kahl ist der Bunker k101 in der Ehrenfelder Körnerstraße; mehrere Räume mit schmucklosen, nackten Wänden reihen sich aneinander, in die kein Tageslicht fällt. Videos von André Lehnert verlängern diese Flucht von Räumen in der heutigen Aufführung gelegentlich ins Unendliche, ins Aussichtslose auch, wenn man an eine Flucht in die Freiheit denkt. Ja, dieser Bunker wäre eine ideale Stätte für ein Foltergefängnis. In dem Raum, in dem Esin Eraydin auf uns wartet, ist die Projektion einer Figur an die Wand geworfen, deren Haupt mit einem schwarzen Tuch verhüllt ist. Im Gefängnis versucht man – auch mit den Mitteln der Folter – den Widerstand der Regimegegnerin zu brechen. Als einziges Requisit hat Regisseur André Lehnert seiner Schauspielerin das Gestell eines Schirms mitgegeben, eines Schirms ohne Bespannung: Die Oppositionelle in einer Diktatur ist schutzlos. Doch Esin Eraydin lässt sich nicht brechen – das signalisieren schon zu Beginn ihre Blicke in die Augen der Besucher. Gegen Ende der einstündigen Performance scheint ihre Figur trotzdem nahe am Zusammenbruch: „Ich kann nicht mehr atmen. Es gibt keine Luft mehr“, ruft sie. Sie ruft es lachend, wie irre geworden. Lange schon hatte das Geräusch stetig fallender Tropfen das Gefühl von Folter in den Köpfen der Zuschauer evoziert; nun tut auch die Isolationsfolter ihr Werk: „Einsamkeit ist grausam und wortlos. Bist du einsam? Ja, ich bin es. Jede Sekunde hier bin ich einsam.“

Das sind Zitate aus dem Text Brennen der jungen Autorin Sarah Milena Rendel, den Eraydin als Produktion des Kunst- und Kulturvereins Soliarts im Jahre 2019 bereits einmal im Brux Innsbruck aufgeführt hat. Paula Scherf vom disdance project hat den Text aufgebrochen und collagiert mit literarischen Texten von Rainer Maria Rilke, Ernst Toller, Wolfgang Borchert, Jean-Paul Dubois, Sabahattin Ali und Nazim Hikmet und ihm dadurch die Form eines Gedankenstroms gegeben. Rilkes Gedicht „Der Gefangene“ steht am Anfang der Performance. Der Text ist wie ein Motto, besser noch eine Zusammenfassung des gesamten Abends, an dem sich lyrische Passagen abwechseln mit Expressionismus und Fragen nach Gott mit Beschreibungen der Ängste, Leiden und Zumutungen der Isolationshaft in einem Folterknast. Scherfs Textfassung und Eraydins Spiel sind nicht nur, wie es im Untertitel heißt, ein „Monodialog mit Diktator“, sondern auch ein innerer Monolog, ein ständiger besorgter Blick auf die verbleibende Widerstandskraft der Inhaftierten. Für den Blick ins Innere findet die Schauspielerin ein Spiegelbild in den an die nackten Wände projizierten, vorproduzierten Bewegungen und Tänzen von Paula Scherf. Ein- oder zweimal nähern sich Schauspielerin und Projektion einander so sehr an, dass die beiden Figuren miteinander zu verschmelzen scheinen. Letztlich trifft sich da die inhaftierte Theaterleiterin auch mit ihrer Kunst: Immer wieder reflektiert Eraydin die Rolle der Kunst für ihren Widerstand, die Kunst, die ihr eine Sprache gegeben hat, um „Nein“ zu sagen: „Ich habe nein gesagt! … Ich habe ein Nein auf die Bühne gebracht… Es muss gehört werden, egal ob leise oder laut.“

Eraydin spricht präzise, mal flüsternd, mal leise, mal mit fester Stimme und manchmal spult der Text auch über Lautsprecher ab, doch niemals lässt die Schauspielerin ihre Figur weinerlich oder leidend wirken. Stets scheint sie ungebrochen, aber sie gibt tiefe Einblicke in das, was die Haft in einem Unrechtsregime mit einem Menschen macht, wie sie ihn seelisch zu zerstören vermag. Mit Wolfgang Borchert beschreibt sie die Einsamkeit in der Zelle als „eines der tollsten Abenteuer, die wir auf dieser Welt haben können“, aber „ohne die Möglichkeit einer Tat“, ohne die Möglichkeit zu körperlichen Wutausbrüchen oder Suizid. Dennoch: Mit Hilfe der Kunst ist es Eraydin gelungen, Nein zu sagen, den Diktator herauszufordern und ihm zu widersprechen. Bei Scherfs Textcollage und Eraydins Spiel handelt es sich nicht nur eine unter die Haut gehende Anklage der Methoden Erdogans, sondern um eine Kritik an den Verhältnissen in sämtlichen Diktaturen dieser Welt. Hammerstark ist diese Collage, präzise und perfekt zusammengebaut, noch beim Nachlesen ein Kunstgenuss - und gespielt wird sie von einer starken Frau. Einer Frau, die trotz der unmenschlichen Erfahrungen, denen sie Seele und Körper aussetzen musste, noch lachen kann. Und die ungebrochen kämpft, so wie es in der Eingangsszene von Ernst Toller formuliert wird: „Pflockt Arm und Fuß in rostge Kette / Brennt Narben ein den magren Händen / Ihr könnt, ihr könnt den Leib nicht schänden. / Wir stehen frei an der verfemten Stätte!“