Städte statt Steppe? Hunger statt Brot!
Anja Jazeschann spielt Magda Homann, eine – einst real existierende - niedersächsische Bäuerin, die mit ihrem sowjetischen Ehemann, den sie im Ersten Weltkrieg kennengelernt hat, in die Ukraine ausgewandert ist: „Im Sommer kann man in der Ukraine nicht verhungern, dachte ich.“ Die Ukraine – wir haben es spätestens in der aktuellen Krise gelernt – ist die Kornkammer Europas. Das Ausmaß der Hungersnöte der Welt ist heute nicht zuletzt davon abhängig, ob und ggfs. wie viele Getreide-Schiffe der Kriegsgegner Russland aus den ukrainischen Häfen durch das Schwarze Meer in Richtung Bosporus passieren lässt. Den Hunger der Welt stillte die Ukraine schon immer: André Erlens freies Theaterkollektiv Futur3 erzählt im Schauspiel Köln vom Gründungsmythos Athens. Die Göttin Athene schenkte den Menschen im Wettstreit mit Poseidon um das wertvollste (oder nützlichste) Präsent einen Olivenbaum. Seitdem baut man in Griechenland Oliven an. Getreide aber, das den Menschen ihr tägliches Brot gab, importierte Athen bereits in der Antike aus der Gegend, in der heute das Staatsgebiet der Ukraine liegt.
Und doch: Trotz des Reichtums an Weizen, Gerste und Mais starben in der (sowjetischen) Ukraine in den Jahren 1932/33 etwa 3,5 Millionen Menschen den Hungertod (andere Quellen sprechen von bis zu 7,0 Mio Menschen). Gleichzeitig stiegen die Getreide-Exporte der Sowjetunion steil an. „Städte statt Steppe“ lautete eines von Stalins Motti, Schwerindustrie statt Ackerbau. Im Rahmen der planwirtschaftlichen Industrialisierung der Sowjetunion wurde die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft verfügt; die Kulaken (theoretisch Groß- und Mittelbauern, jedoch wurde de facto mit diesem Begriff nahezu jeder belegt, der sich der Zwangskollektivierung widersetzte) wurden bekämpft. Die planwirtschaftlichen Ziele für Getreideabgaben stiegen und wurden unerreichbar; wer den Plan nicht erfüllte, wurde des Diebstahls bezichtigt. Den Bauern blieb – nichts.
Für viele Menschen ist der „Holodomor“ (die „Tötung durch Hunger“) heute so etwas wie der Gründungs-Mythos der Ukraine; zumindest ist er, wie Mariana Sadovska im Anschluss an die Kölner Aufführung von Die Revolution lässt ihre Kinder verhungern sagt, der erste Teil einer Kette von Gewalterfahrungen, die die Ukraine mit dem heutigen Aggressor Russland gemacht hat. Nicht nur Menschen, sondern eine ganze Kultur wurde vernichtet. Der Holodomor gilt als klassisches Beispiel für einen Soziozid; 17 Länder in Europa, Nord- und Lateinamerika erkennen ihn sogar als Genozid an. In der Sowjetunion war das Thema tabuisiert, erst Anfang / Mitte der 1990er Jahre wurde eine Aufarbeitung in Russland möglich, wobei dort bis heute sowjetische Propagandamotive bemüht werden, um das Ausmaß und die Ursache des Soziozids zu verschleiern.
Anders als in den USA ist das Wissen um den Holodomor in Deutschland wenig verbreitet. André Erlens Inszenierung beginnt daher mit der Vermittlung historischer Fakten. Ein Fotoalbum wird aufgeklappt, das – projiziert auf drei braune, leinwandähnliche Tücher – Bilder von einem Dorf zeigt, in dem niemand die Hungersnot überlebt hat. Erlen und sein Partner in der Künstlerischen Leitung von Futur3 Stefan H. Kraft haben mit der Planung ihres Dokumentartheater-Projekts bereits im Jahre 2020 begonnen. Nach dem Ausbruch des Ukraine-Krieges am 24. Februar 2022 mussten sie keine großen Klimmzüge vollziehen, um Parallelen zwischen den beiden Versuchen zur Vernichtung eines Volks aufzuzeigen. Die Fotografien von verfallenden, zerstörten Gebäuden und von auf der Straße liegenden, noch nicht begrabenen Leichen ähneln frappant den Bildern aus dem aktuellen Krieg, die wir aus den Medien kennen. In der Ukraine wurden Interviews geführt mit Menschen, die noch die Erzählungen früherer Generationen kennen. Dabei haben Erlen und sein ukrainischer Kooperationspartner Pavlo Yurov bewusst Menschen ausgewählt, die in der Nähe der heutigen Frontlinie leben. Einmal beendet ein russischer Angriff vorzeitig das Interview, und die Menschen verschwinden im Luftschutzkeller. Die Parallelen zwischen der Vernichtung der ukrainischen Kulaken in den 1930er Jahren und dem aktuellen Vernichtungskrieg Russlands - beides Versuche zur Russifizierung der Bevölkerung - werden augenfällig.
Zahlreiche Zeugen des Holodomor werden aufgerufen: Oleksii Dorychevskyi spricht Texte aus den Tagebüchern des ukrainisch-stämmigen sowjetischen Brigadiers Stepan Podlubny, der innerhalb des Sowjetsystems aufsteigen möchte und trotz hungernder ukrainischer Verwandtschaft der Propaganda des Staatsapparats verfällt, für die Geheimpolizei arbeitet und seine ukrainische Identität verleugnet. Ihm kommen Berichte zu Ohren von Kannibalismus in seiner ukrainischen Heimat, von „geschlachteten Kindern“, doch er wehrt sich gegen jegliches Mitgefühl. Irgendwann scheinen jedoch auch ihn Zweifel zu packen. – Magda Homann, die Bäuerin aus dem niedersächsischen Stöckte, schrieb zahlreiche Briefe an ihren stumm bleibenden Bruder Gustav daheim, aus denen in der Aufführung zitiert wird. Homann wird später ins Gulag deportiert, wo sie vermutlich verstorben ist. - Der walisische Journalist Gareth Jones und der später nach Köln ausgewanderte, mit Heinrich Böll befreundete Schriftsteller Lew Kopelew kommen ausführlich zu Wort. Beide waren zunächst glühende Verehrer des Sowjet-Systems, bevor ihnen die Augen aufgingen. Kopelew hat an Strafexpeditionen gegen ukrainische Bauern und an der Zwangs-Requirierung ihrer Ernten teilgenommen und bis an sein Lebensende an die Heilsversprechungen des Kommunismus geglaubt. Gareth Jones hingegen, von Stefan H. Kraft überzeugend gespielt, wurde später zum Chronisten des Holodomor und wies als erster auf die Hungersnot im ukrainischen Teil der Sowjetunion hin. Er starb kurz vor seinem 30. Geburtstag auf einer Reise in die Mongolei – vermutlich von einem deutschen KGB-Agenten liquidiert.
Bisweilen erinnert die Aufführung in ihrer Ernsthaftigkeit und ihrem Bemühen um Aufklärung und Dokumentation an die Inszenierungen von Nuran David Calis, die am Schauspiel Köln ja eine lange Tradition haben. Aber – der große Meister mag verzeihen – die Aufführung von Futur3 ist deutlich weniger spröde. Der didaktische Impetus von Erlens Inszenierung verbindet sich geschickt mit künstlerischen Mitteln, die auch die Gefühlswelt ansprechen. Futur3 greift zu den unterschiedlichsten Theatermitteln: zu Fotografie und Film (auch zu sowjetischen Propagandafilmen, in denen endlose Kolonnen von Traktoren über die Felder fahren), zu kurzen Spielszenen, zu Gesang und angedeuteten Choreografien. Jörg Ritzenhoff begleitet viele Szenen musikalisch. Besonders berührend wird die Aufführung, wenn die Gesänge von Mariana Sadovska und Yasia Sayenko den faktenreichen Abend mit Emotion aufladen. Trauergesänge, die in der ukrainischen Volksmusik wurzeln, malen bedrückende Stimmungsbilder, und als der junge Stalin-Verehrer Lew Kopelew gewaltsam die bereits hungernden Bauern um ihr Getreide-Deputat bringt, das gesamte Ensemble einen laut anschwellenden Klagegesang anstimmt und dazu eine Rede Stalins zum Sieg über die angeblich so widerständige Landbevölkerung erklingt, erreicht die Aufführung eine ungeahnte Intensität. - Einmal wird auf den Videotüchern ein Schild eingeblendet, das die Aufschrift trägt: „Das Begraben von Menschen ist hier strengstens verboten“. Die Ukrainerinnen und Ukrainer haben die Erinnerung an den Holodomor bis heute nicht begraben. Das verleiht ihnen Kraft zum Widerstand.