Übrigens …

Philoktet im Prinz Regent Theater Bochum

Kein Platz für Tugend

Auch für den Bewunderer von Heiner Müller, als der sich der Schreiber dieser Zeilen gerne outet, ist Philoktet ein harter Knochen. Das Drei-Personen-Stück (eine Überschreibung eines alten Sophokles-Dramas aus dem Jahre 409 v. Chr.) ist eine merkwürdige Mischung aus Brecht’scher Dialektik, Müller’schem Geschichts-Pessimismus und antiker Tragödie, und zwei der drei Protagonisten finden sich in den Charts der Greatest Mythological Heroes and Villains eher auf den hinteren Plätzen. Einzig Odysseus segelt nach wie munter von einer hoffnungsvollen Insel zur anderen im Meer unserer Geschichtsvergessenheit; Neoptolemos und Philoktet erhalten heute nicht mehr allzu viel Bühnenpräsenz. Den drei rauen Kerlen, von denen zumindest Odysseus und Neoptolemos eigentlich noch voll im Saft stehen sollten, droht zudem in so mancher Inszenierung ein Schicksal als blutleere Nerds, denn in typisch Brecht’scher Manier dienen sie als Prototypen: Sie stehen exemplarisch für drei Geistes-Haltungen – oder sagen wir: für drei recht unterschiedlich tickende homines politici: für den Funktionär und kalten Polit-Strategen, den Individualisten und den Moralisten. Doch was daherkommt wie ein Lehrstück, sollte den Meister Brecht eigentlich lehren, dass er mit seinen Lehrstücken vom aufrechten Genossen auf dem Holzweg ist. Müller weist die Unmöglichkeit moralischen Handelns in der Politik im Allgemeinen und in Zeiten des Krieges im Speziellen nach und widerspricht seinem Lehrmeister BB, der die charakterfeste Gesinnung des guten, wenngleich manchmal mordenden Kommunisten auf oftmals arg raschelndes Papier bringt.

Bei Müller raschelt nix, denn die antikisierenden klassischen Verse des „Philoktet“ sind von erlesener Schönheit. Die Heldinnen von Hans Drehers Inszenierung am Prinz Regent Theater Bochum vermögen das überzeugend zu transportieren. Heldinnen? Ja, Dreher hat das vor dem Hintergrund des Trojanischen Krieges spielende, eigentlich grauenvoll maskuline Stück mit drei Frauen besetzt, und das erweist sich als Besetzungs-Coup, nehmen die Damen doch den Figuren manches von ihrer machohaften Präpotenz. Erst einmal aber machen sie dem Publikum den Einstieg in das schwierige Stück etwas leichter. Scheinbar ein wenig ziellos, schäkern sie ein bisschen und erklären die Hintergründe der Story. Neoptolemos zum Beispiel, erklären sie zutreffend, sei eigentlich der Sohn von Brad Pitt aus „Troja“. (Pitt verkörpert in Wolfgang Petersens Monumental-Drama von 2004 den Achilles, bloß kommt sein Sohn, wenn die Erinnerung nicht trügt, im Film ebenso wenig vor wie der stinkende Philoktet.) Nermina Kukic, Katja Heinrich und Sina Ebell erzählen uns in lockerstem Plauderton erst einmal ein wenig von der extrem komplizierten Vorgeschichte, weisen darauf hin, dass es in Müllers Stück vor allem um Krieg und Konflikte gehe, dass es leider auch nicht gut ausgehe und dass, wie man sehe, sie drei auch gar keine Männer seien. Und siehe da, bevor das eigentliche Stück losgeht, hat man schon dreimal gelacht. Und ahnt, dass das mit den Kriegen noch einmal aktuelle Relevanz gewinnen könnte….

Tatsächlich ist dann ist Schluss mit lustig. Die drei Prototypen staatlichen respektive individuellen Handelns treffen aufeinander, und die sprudelten schon in Müllers DDR nicht allzu sehr von Humor. Der Individualist – eine zum Zeitpunkt der Entstehung des Stücks Anfang der 1960er Jahre in der DDR nicht besonders geschätzte Spezies - ist Philoktet, dessen individualistische Neigungen vermutlich ausgerechnet durch früheres Staatshandeln ausgelöst wurden: Er wurde zu Beginn des Trojanischen Krieges wegen seiner stinkenden Kriegsverletzung auf der Insel Lemnos ausgesetzt, die vor allem von Geiern, einem der Symbole des Kriegsgottes Ares, bevölkert ist. Ein im ostdeutschen Sozialismus geschätztes Kollektiv stand und steht dem Krieger auf der unbewohnten Insel nicht zur Verfügung. Er ist voller Groll gegen seine ehemaligen Kriegsgefährten, und die könnten ihn eigentlich weiter vor sich hinstinken lassen, besäße er nicht den Bogen des Herakles, den die Griechen gemäß einer alten Prophezeiung zur Eroberung der Stadt Troja zwingend benötigen. Philoktet zur freiwilligen Rückkehr ins griechische Heer zu überreden, gelingt nicht; also soll dem unsichereren Kantonisten seine Wunderwaffe entwendet werden. Als der auf dem Trip ist, sich an Odysseus zu rächen, wird er getötet. Und zwar von Neoptolemos, eigentlich dem Moralisten in dieser Story, der im Rahmen seines Auftrags widerwillig, aber staatstreu an moralischer Grundierung verliert und Philoktet mit Hilfe einer von Odysseus ersonnenen Intrige übers Ohr zu hauen versucht. Odysseus, der Polit-Stratege, spielt die Rolle des Strippenziehers, der die Interessen des Staates ohne jede Rücksichtnahme auf individuelle Interessen mit unerbittlicher bürokratischer Konsequenz durchsetzt – man kann sich den Helden von Troja in anderen Konstellationen auch locker als Schreibtischtäter vorstellen.

In der Konsequenz jedenfalls sehen die drei hehren Prototypen ziemlich alt aus: Das eigentliche Opfer – Philoktet – verweigert dem Vaterland die Hilfe und wird beinahe zum Täter, der Moralist mordet, und der Funktionär und Vertreter des Staates, der dem Primat des Kampfes gegen den Staatsfeind folgt, greift zu rücksichtslosen Mitteln. Zu Müllers Zeiten mag das eine verklausulierte Kritik am Stalinismus gewesen sein. Der 1964 fertiggestellte Text wurde in der DDR zwar zügig in der vergleichsweise liberalen Zeitschrift „Sinn und Form“ veröffentlicht, erlebte seine Uraufführung jedoch erst 1968 am (westdeutschen) Münchner Residenztheater. Heute erscheint das Stück, das einerseits den Widerstreit zwischen Freiheit und staatlichem Handlungszwang und andererseits den Konflikt zwischen Wahrheitsliebe und politischen Interessen dienender Lüge verhandelt, wieder hochaktuell. Lügen in Zeiten des Krieges erscheinen fast als Staatsraison - und zwar bei den kriegsführenden Parteien ebenso wie bei ihren Verbündeten. Und doch bleiben arge Bedenken, wenn Odysseus dem hilfsbereiten, aber wahrheitsliebenden Neoptolemos kalt entgegnet: „Doch braucht es einen Helfer hier, der lügt.“Kaum anders ist es bei staatlichen Eingriffen in individuelle Freiheitsrechte. Man denke nur an das dringend erforderliche Primat der Politik in der aktuellen Klimapolitik: In der Energie- und Klimakrise muss Schluss sein mit dem Schutz individueller Gartenzäune vor der Verlegung von Strom- und Gastrassen oder der Errichtung von Windrädern. Und doch schmerzt jeder Eingriff in die Freiheitsrechte wie ein Angriff auf die Demokratie.

Dreher inszeniert das Stück vollkommen werktreu. Er benötigt keine aktualisierenden Zusatztexte, sondern lauscht aufmerksam den Versen von Müller – deren Relevanz ergibt sich automatisch. Der Regisseur lässt seine drei Schauspielerinnen in einem hübschen, semi-abstrakten Kunstwerk von Clara Eigeldinger spielen, das mit angedeuteten Felsen und Gräsern, hinter denen die Performerinnen auch einmal verschwinden können, die Insel Lemnos verkörpert. Katja Heinrich gibt den Odysseus phasenweise mit Chef-Attitüde und gewisser Arroganz, doch auch den Neoptolemos legt Sina Ebell als einen selbstbewussten, eigenständig denkenden Helfer an, dem der innere Widerstand gegen die Aufforderung von Odysseus zu Lüge und Intrige jederzeit anzumerken ist. Dem Müller’schen Pathos vermag Ebell auf empathische Weise die Trauer und das Leid ihrer Figur hinzuzufügen. Gleichzeitig gelingt ihr die „Lüge“ ausgesprochen überzeugend – zum Handeln gegen das eigene Gewissen gezwungen, ist der Hass auf Odysseus, den sie Philoktet vorgaukeln soll, ja durchaus real. Nermina Kukic überzeugt in der Rolle des Philoktet, der mit verschmierten Augen, fettigen Haaren und verbundenem Bein zu Beginn fast ein wenig verwildert wirkt, bei dem sich aber Stolz, ein souveränes Erfassen der Situation und eine gewisse Todessehnsucht zu einem spannenden, vielschichtigen Charakter verbinden.

Der Showdown ist Müller’scher Geschichtspessimismus. Ist tragischer Konflikt, antike Ausweglosigkeit: Strahlend spannt Philoktet den Bogen an, zielt erst auf Neoptolemos, dann auf Odysseus. Doch hinterrücks schleicht sich Neoptolemos an und tötet den kranken, verletzten, betrogenen Mann. „Trauriger Ruhm, zu töten einen Toten“, konstatiert Neoptolemos voller Scham und Selbstvorwürfen. Auch Odysseus, der kalte Funktionär, trauert um den toten Philoktet. Zum Sieger ist bei Dreher niemand geworden – nicht der Individualist, nicht der Funktionär, nicht der korrumpierte Moralist. „Kein Platz für Tugend hier“, hatte es zuvor geheißen. Auf Lemnos herrschen weiter die Todesvögel…