Übrigens …

Camping Paraiso** - Über das (Sterben) Leben im Orangerie Theater im Volksgarten

Nachrichten aus der Zwischenwelt

Einst habe das Team des Analogtheaters Köln regelmäßig die lustigen Facebook-Posts des Essener Comedy-Autors Dirk Roß verfolgt, berichtet Regisseur Daniel Schüßler im Interview mit dem Kölner Kultur-Magazin Choices. Irgendwann seien diese plötzlich ausgeblieben. Bis dann nach einigen Monaten wieder eine Nachricht erschienen sei, die „in larmoyantem Ton“ den Unfall schilderte, der Dirk Roß beinahe das Leben gekostet hätte.

Roß war am 30. Mai 2020 mit dem Motorroller unterwegs, als ihm der Fahrer eines PKW die Vorfahrt nahm. Wochenlang schwebte Roß im Koma, auf der Grenze zwischen Leben und Tod; allein zehn Wochen verbrachte er auf der Intensivstation des Krankenhauses. Traumata sind ihm bis heute geblieben; immer wieder erleidet er Rückschläge, bis heute treten Komplikationen auf und es werden neue Operationen erforderlich. Als Schüßler und Dorothea Förtsch, die Leiterin des Analogtheaters, ihn ansprachen, ob er seine Geschichte im Rahmen der von Schüßler vor einigen Jahren begonnenen Reihe von „fiktionalen Biopics“ erzählen wolle, sagte er spontan zu. Larmoyant ist die Erzählung nur an einer einzigen Stelle, etwa in der Mitte der Performance – der komatöse Patient leidet unter einem Ohrwurm, den er nicht los wird und von dem sich abzulenken in seiner Situation mutmaßlich besonders schwierig ist. Laute Lacher von einem Teil des Publikums im ausverkauften Orangerie Theater begleiteten die Szene in der besuchten Aufführung, was der Rezensent als einen irritierenden Mangel an Empathie empfand. Vielleicht ist dies die einzige etwas schwächere Phase der Inszenierung, vielleicht hat aber auch der Rezensent einfach nur den Humor nicht erkannt, den der einstige Comedy-Autor sich laut Schüßler trotz seiner inneren und äußeren Verletzungen bewahrt hat. Ansonsten erlebt der Zuschauer eine ausgesprochen berührende, unendlich düstere, aber auch poetische Aufführung.

Der Text ist eine Art Gedankenstrom, erzählt aus der Perspektive der Zwischenwelt, in der sich Roß über mehrere Wochen befunden hat. Der Patient macht sich Gedanken über Gedanken – auch Gedanken über die Gedanken der Hinterbliebenen, während er gleichzeitig noch am Leben ist. Manchmal erinnert er sich an die Situation unmittelbar nach dem Unfall; meist kreisen die Gedanken unsortiert hin und her um Banales und Existenzielles, um Fußball und die auf die Familie zukommenden Finanz-Probleme, um die zahlreichen Diagnosen der erlittenen körperlichen Schäden, um den Tod und die damit verbundenen Absurditäten, um zu gesunden Zeiten getroffene Vorsorge, um Praktisches und Esoterisches. Manchmal phantasiert der Patient auch bloß, manchmal treten Alpträume auf – und Überlegungen im Hinblick auf das zukünftige Leben seiner Familie: „Wie wird wohl der neue Freund meiner Frau aussehen?“, fragt er sich. Wochenlang sieht er vor allem „Endzeitbilder“. Er empfindet Perspektivlosigkeit – und er reflektiert über die Zeit, die nun unendlich vorhanden ist, die er aber nicht nutzen kann: Das Programmheft und sinngemäß auch die Aufführung zitieren den 1987 verstorbenen Psychologen Wilhelm J. Revers, der unter anderem über „Die Psychologie der Langeweile“ und das „Problem des Zeiterlebens in der Psychologie“ gearbeitet hat: „Wie alles Erleben fällt auch die Verzweiflung dem Sog des Nichts anheim. Langeweile ist nicht Verzweiflung, sondern die Auflösung der Verzweiflung in der Zeit … Die pure Zeit offenbart das Nichts an Erleben und Erlebnis, an Selbst und Welt.“

Zeitlupenartig bewegen sich dazu bizarre Gestalten in einer surrealen Choreografie über Bühne und Leinwand. Es sind die „Zwischenweltwesen“, wie das Analogtheater sie nennt – Bewusstseinszustände des in Lebensgefahr schwebenden Unfallopfers, dessen Gedanken in Zwischenwelten verharren, in den Welten zwischen dem Nichts und dem Leben. Gemäß der Tradition des Analogtheaters spielt die Aufführung mit verschiedenen künstlerischen Mitteln: Sie ist eine Mischung aus Film, Schauspiel, Performance/Choreografie und Bildender Kunst. Die Zwischenweltwesen ebenso wie die realen Schauspielerinnen und Schauspieler Dorothea Förtsch, Lara Pietjou und Ingmar Skrinjar bewegen sich wieder und wieder an einem einsamen Strand: Ein experimenteller Film war der Nukleus der heutigen Aufführung; er entstand zu Zeiten des Corona-Lockdowns und wurde bereits zu zahlreichen nationalen und internationalen Filmfestivals eingeladen. Mal liegen sie gleichzeitig am Strand und auf der Bühne wie Tote, dann wieder tollen sie vergleichsweise fröhlich und lebendig herum. Ein paarmal ist in den Dünen ein armseliges kleines Zelt zu sehen – „Camping Paraiso**“ hat Daniel Schüßler seine Aufführung genannt. Dieses Paradies erinnert an einen einfachen (Zwei-Sterne-)Campingplatz an der Costa Brava, den Dirk Roß in seiner Jugend gelegentlich besucht hat und der wohl ähnlich perspektivlos war wie Roß sich während seines Krankenhaus-Aufenthalts gefühlt hat. Und doch sind diese Bilder vom Meer zwar einsam, aber hell. Sie kontrastieren mit den Bildern von alptraumartigen Figuren, die in völligem Dunkel zu schweben scheinen, und sie tragen bei zu der manchmal sogartigen Wirkung einer Aufführung, die zwischen Alptraum, resignativer Melancholie und Hoffnung changiert. Im Falle seines Todes, so hat der Patient offenbar zuvor festgelegt, solle seine Asche im Meer verstreut werden. Meeresrauschen bestimmt immer wieder den Soundtrack der Inszenierung. Der Gedanke an die Seebestattung ist eines der Endzeitbilder, aber es könnte auch ein Trost sein, dass der letzte Wunsch des Patienten in Erfüllung gehen könnte. Doch nein: „Ich habe immer gedacht, das Nichts assoziiert man mit Leere, und da ist vielleicht noch so ein Rauschen“, heißt es einmal im Text. „Aber da ist einfach Nichts.“

Dennoch: Dirk Roß hat überlebt. Seine Geschichte wurde zu einem Text über das Leben, nicht über das Sterben. Mehr noch ist es ein Text über die Zwischenräume. Die Komposition von Ben Lauber, die den gut sechzigminütigen Abend begleitet, ist düster, aber vor allem hat sie etwas Melancholisches. Sie lässt Hoffnung. Und wenn zwischendurch einmal Richard Sandersons Song „Dreams Are My Reality“ eingespielt wird, ist es tatsächlich Zeit zum Schmunzeln. Dann löst Daniel Schüßler sein Versprechen ein, die düstere Geschichte des Dirk Roß mit ein wenig Leichtigkeit anzureichern. Anfang Dezember 2022 erhielt die großartige spartenübergreifende Inszenierung den Kölner Theaterpreis.