Übrigens …

Die fünf Leben der Irmgard Keun im Schauspielhaus Düsseldorf

Auf den Glanz kommt es nämlich vielleicht gar nicht so an

Freie Platzwahl“, steht auf der Eintrittskarte, doch alle Flügeltüren zum großen Saal bleiben geschlossen. Dann öffnet sich eine schmale Tür, eigentlich nur fürs Personal gedacht, und die zweihundert wartenden Zuschauer drängeln sich durch enge Räume voller Kisten und Kasten, bis sie ein großes Rondell erreichen, das mit weißen Plastikdrehstühlen vollgestellt ist. Das Ganze ist eingekreist von einer hohen Gazewand, vor der rundum ein Gang frei bleibt, auf dem sechs SchauspielerInnen in zwanzig verschiedene Rollen schlüpfen werden, um Die fünf Leben der Irmgard Keun zu präsentieren. Allerdings wird nicht nur rundum gespielt, sondern auch zwischen den Zuschauern, die immer mal wieder die Füße einziehen müssen, denn der Platz ist knapp, da das Ganze auf der großen Drehbühne des Schauspielhauses aufgebaut ist.

Das Spiel beginnt. Wir befinden uns im Jahr 1977 in einem Kölner WDR-Studio, in dem gerade eine halbstündige Vorabend-Doku über die einst gefeierte Schriftstellerin Irmgard Keun gedreht wird. Der Regisseur Lothar Dorner, gereizt gespielt von Thiemo Schwarz, drängt auf Einhaltung von Zeit- und Kostenplan. Zwei Tage Drehzeit sind geplant, da gibt es keinen Raum für unnötige Unterbrechungen. Die aber drohen: Mitten im Publikum, auf einem der Drehstühle kauert eine scheinbar schlafende ältere Frau mit Pelzmütze und grünlich glänzendem Trenchcoat (und nicht, wie in den Regieanweisungen vorgegeben, im Pelzmantel. Vermutlich eine Anspielung auf den ärmlichen Mantel des „kunstseidenen Mädchens“.) Brüsk aufgeweckt vom Regisseur, steht sie da: Irmgard Keun, in den folgenden eindreiviertel Stunden hinreißend gegeben von Claudia Hübbecker. Im Film-Team sind zwei weitere Schauspielerinnen für die Rolle der Keun vorgesehen: für die ältere eine namens Hilda Gereon (gespielt von Tabea Bettin), für die jüngere eine namens Elly Meissner (gespielt von Pauline Kästner). Das bedeutet, dass wir es mit drei Keun-Gestalten zu tun haben, die uns durch „die fünf Leben der Irmgard Keun“ führen. Obwohl die „echte“ Keun behauptet, sich für ihre Vergangenheit nicht zu interessieren, verreißt sie dann eine Szene des Filmteams nach der anderen. Die Kaffeehaus-Szene zur Zeit der Weimarer Republik, die Keun als Stenotypistin, Schauspielerin und erfolgreiche Schriftstellerin durchlebte, nennt sie dilettantisch, schmalzig und überspannt. Nach dem Schreibverbot 1933 floh Keun 1936 nach Ostende. Die Darstellung dieser Exil-Zeit beschimpft sie als „verzwergt und verniedlicht“ und denkt darüber nach, „diesen ganzen Mist hier verbieten zu lassen“.

Während die Crew nach Hause geht, gelingt es der „echten“ Keun, den Pförtner so zu bezirzen, dass sie im Studio bleiben kann. Reichlich angetrunken, erlebt sie ihre nächsten Lebensphasen als Traum oder Vision. Der Bühnenboden beginnt zu schwanken und Keun landet in den USA, wo der jüdische Arzt Arnold Strauss auf sie wartet. Doch schon nach einem Monat verlässt sie ihn mit dem Aufschrei: „Ich würde mich lieber in einem deutschen Konzentrationslager totprügeln lassen, als mein Dasein dankbar und demütig an deiner Seite zu Ende zu leben!!!!!!!“ Ein Satz, der in seiner Härte so maßlos ist, dass er wohl authentisch sein muss. Es folgen noch Szenen zurück in Europa, jetzt wieder mit der Crew, wobei der Schauspieler Horst B. Sauer (gespielt von Rainer Philippi, der brillant durch seine vier Rollen schlüpft) die Spielebene verlässt und in seine verdrängte Soldaten-Vergangenheit abgleitet.

Man ist mitten drin im Geschehen, doch die unterschiedlichen Handlungs- und Zeitebenen sowie die rasanten Rollenwechsel fordern äußerste Konzentration. Hinzu kommt der latente Verdacht, dass nicht alles Erzählte und Erinnerte der Wahrheit entsprechen muss: Realität und Fiktion durchmischen sich schon in den Keun‘schen Lebensberichten, und auch das Autorenpaar Lutz Hübner und Sarah Nemitz nehmen für sich in Anspruch, aus der authentischen Figur eine Theaterfigur zu machen, ihre Geschichte zu fiktionalisieren und die „innere Wahrheit“ zu suchen. So passt es ins Bild, wenn die Theaterfigur Keun in der Psychiatrie (1966 wurde sie für sechs Jahre ins Landeskrankenhaus Bonn eingewiesen) mit dem Arzt streitet, ob sie schläft oder wacht, während auch wir verunsichert sind, denn sie steht jetzt auf dem Stuhl, auf dem sie zu Beginn saß und schlief.

Noch einmal dreht sich die Bühne, die Live-Musiker (Kristina Koropecki, Cello, und Jason J. Liebert, Posaune) spielen noch einmal anrührend auf und die Keun scheint davonzurudern. Das Projekt ist gescheitert: der Dreh wird abgesagt und in eine vage Zukunft vertagt - die es dann nicht mehr gibt.

Tatsächlich wurde das Werk der Irmgard Keun 1977 nicht zuletzt durch die „Stern“-Serie „Die verbrannten Dichter“ wiederentdeckt, es erschienen Neuauflagen und wenn auch ihr Leben nicht mehr verfilmt wurde, so doch ihr Roman „Nach Mitternacht“ (1937 in Amsterdam erschienen). Irmgard Keun starb 1982 mit 77 Jahren.

Das Publikum dankte begeistert eInem phantastischen Ensemble, einer ungewöhnlichen, gelungenen Regie und dem anwesenden Autorenpaar für einen außergewöhnlichen Theaterabend.

 

Epilog

Das kunstseidene Mädchen

Monolog mit Pauline Kästner - nach dem Roman von Irmgard Keun

Nach halbstündiger Pause trifft sich ein Teil des Publikums wieder im Foyer des Schauspielhauses um ein Podest, auf dem die Schauspielerin Pauline Kästner, die im Stück „Die fünf Leben der Irmgard Keun“ die jüngere Keun spielt, in einem grandiosen Monolog das Kunstseidene Mädchen Doris präsentiert. Begleitet von Yaromyr Bozhenko am Piano blickt das älter gewordene Mädchen Doris im weißen Glitzerkleid und Pelzjäckchen auf einen Teil ihres Lebens zurück. Sie, die im Roman immer „ein Glanz“ werden wollte, hat es im prachtvollen Kostüm der Justine Loddenkemper scheinbar dahin geschafft (wenn auch der edle Pelz im Roman gestohlen ist.)

Am Stehtisch in ihrem Tagebuch blätternd, das sie einst als Achtzehnjährige begann, weil sie glaubte, „ein ungewöhnlicher Mensch“ zu sein, an dem „alles erstklassig ist“ , greift sie jetzt Episoden heraus und fragt sich, was aus ihren Träumen geworden ist. Grandios gesprochen und gesungen, bleibt doch am Ende des Romans außer dem Kleid kein „Glanz“ übrig.

Eine interessante, gelungene Idee, nach der fiktionalen Biographie der Irmgard Keun, die wir auf der schwankenden Bühne durch ihre fünf Leben oder mehr (so im Stück) begleiten konnten - durch ein Künstlerinnenschicksal: berühmt, verboten, gebrochen, vergessen und wiederentdeckt - eine gelungene Idee nach diesem Theatererlebnis eine Begegnung mit dem Werk der Protagonistin in großartiger künstlerischer Gestaltung anzubieten.