Übrigens …

Lärm. Blindes Sehen. Blinde Sehen! im Schauspiel Essen

Neues von der Corona-Front: Bill Gates‘ Chip gefunden

Gestern fordert Justizminister Marco Buschmann das Ende aller Corona-Maßnahmen, heute hustet meine Sitznachbarin im Theater in die Armbeuge - und auf dem Videoscreen toben die Corona-Leugner. Elfriede Jelineks Text ist anders aktuell als zum Zeitpunkt der Uraufführung vor eineinhalb Jahren. Die Pandemie ist zur Epidemie heruntergestuft; sie schreckt die meisten Menschen nicht mehr. Stattdessen wecken andere Krisen Zukunftsängste: Krieg in Europa, Energieknappheit, Inflation. Aber die Wut ist die gleiche geblieben, die Dummheit eines signifikanten Teils der Bevölkerung auch. Denn sie findet keine Orientierung mehr: „Entsetzlicher Lärm, der uns beim Denken stört“, tönt aus den sozialen Netzwerken, Lärm, der ungefiltert, unsortiert und ohne Priorisierung auf ein überfordertes Publikum trifft und aus dem ein jeder und eine jede sich eine eigene, höchst individuelle Wahrheit zusammenzimmert. Blind stochert so mancher im Nebel der Gerüchte und Informationen und der manipulativen Meinungsflut. Ausgerechnet Jelinek beklagt das. In ihren mäandernden Textflächen tut sie eigentlich seit Jahren nichts anderes als divergierende Meinungen, Gerüchte und Vorurteile zu mischen, oft voller platter Kalauer und meist so, dass man schnell die Orientierung zu verlieren droht. Aber stets mit beeindruckender Virtuosität…

Nun also Jelineks Corona-Stück. Oder ist es ein Corona-Leugner-Stück? Die Geistesverwirrung leugnender Wutbürger kommt in verpixelten Videos über die Rampe und löst bei jedem halbwegs normal denkenden Menschen Lachreiz aus. Bloß: Das alles ist abgefilmte Realität – durchgeknallt, aber gefährlich. Von „Protestpartys“, mit denen „die Empörten und Beleidigten das Land … überziehen“, spricht Regisseur Hermann Schmidt-Rahmer im Gespräch mit der Dramaturgin Carola Hannusch: „… diese Form der Partys endet zwangsläufig in Gewalt.“ Auf welcher Seite Jelinek steht, wirkt deutlich, doch Jelinek weiß auch: Zur Gewalt gehören (fast) immer zwei…

Schmidt-Rahmer hat Jelineks Text mit Bezügen zum Heute angereichert, zu einer Zeit, da Energiesparen und kalte Duschen angesagt sind. Andererseits hat er den ausufernden Text auf zweieinhalb Stunden Spieldauer eingedampft. Er konzentriert sich auf die Corona-Thematik – im Zusammenhang mit Jelineks Stück spricht man vielleicht besser von Corona-Parabel -, hat den Text thematisch geordnet und in Kapitel unterteilt. Das Verfahren kommt der Verständlichkeit zugute, hat aber eine Kehrseite: Die Schwächen von Jelineks schnell geschriebenem und auf die Bühne geschobenem Stück treten offensichtlicher zutage als in der bildmächtigen, sinnesfrohen Hamburger Uraufführungs-Inszenierung, die im Mai bei den Mülheimer Dramatikertagen zu sehen war und die bereits gegen Ende des zweiten Lockdowns im Sommer 2021 das Licht der Bühnenscheinwerfer erblickte. Jelineks Textflächen mäandern üblicherweise durch eine Vielzahl gedanklicher und thematischer Ebenen. Lärm. Blindes Sehen. Blinde Sehen! dagegen wirkt vergleichsweise eindimensional, und die bei Jelinek in jüngster Zeit zum Standard-Repertoire gehörende Spiegelung in antiken Mythen erscheint in diesem Text zumindest heute, zweieinhalb Jahre nach dem Tönnies-Skandal um die Lebens- und Infektionsbedingungen der osteuropäischen Arbeitsmigranten in der Fleischfabrik, nur bedingt überzeugend. Wer erinnert sich heute schon noch daran, dass damals Menschen aus dem Kreis Gütersloh in Bayern zu unerwünschten Personen erklärt wurden? Hochaktuell spielte Jelinek damals auf die Sage von Odysseus und seinem und seiner Gefährten Abenteuer bei der Zauberin Circe auf der Insel Aiaia an. Circe verwandelte bekanntlich sämtliche Segelbrüder des griechischen Helden in Schweine - der Fleischeslust und anderer Laster wegen. Schmidt-Rahmer lässt einen eindrucksvoll Homer-bärtigen Jan Pröhl als Odysseus sogar in Fleischerschürze auftreten, doch irgendwie will die Pointe mit der griechischen Sage nicht so recht zünden. An das „Kitzloch“ im österreichischen Nobel-Skiort und seine Funktion als Virenschleuder für halb Europa erinnert sich dagegen noch jeder. Die Après-Ski- und sonstige Vergnügungs-Bar hat Bühnenbildner Thilo Reuther bis zur Kenntlichkeit nachgebaut. Dass die nächtens nach dem Konsum von einigen Jager-Tees mit so manchen Schweinen bevölkert war, steht außer Zweifel.

Schmidt-Rahmer hat nach eigener Aussage den Jelinek-Text als eine Art Boulevard-Komödie inszenieren wollen, und in den Kitzloch-Szenen kommt er seinem Ziel sehr nahe. Schmidt-Rahmer und Boulevard – das ist allerdings neu. Dafür ist der Mann zu intelligent, zu ernst und manchmal auch zu wütend. Folgerichtig klappt das mit dem Boulevard nicht so ganz, was eigentlich erfreulich wäre. Doch stattdessen wirken die eigentlich hochkomischen und überdrehten Szenen der auf Skiern durch die Bar wankenden und Flachsinn redenden Touristen etwas spröde und statisch. Die Inszenierung ist wie Jelineks Literatur: Sie schwankt von genialen Momenten zu banalen und redundanten Passagen und wieder zurück. Toll gelingen stets die Soli: Silvia Weiskopf zu Beginn und Ines Krug gleich im Anschluss bringen Jelineks Wortspiele und Zitat-Verballhornungen auf jeweils individuelle Weise zum Klingen, und nach der Pause findet Stefan Diekmanns demagogische Rede gegen Verschwörungstheoretiker und sonstige Dummschwätzer unsere emotionale Zustimmung, bevor sie in eine grauenvoll totalitäre Phantasie ausartet. Bei Diekmann werden sie wieder deutlich, die Auswirkungen der sozialen Medien, deren Lärm beim Denken stört und durch Populismus verführbare, aber eigentlich mit halbwegs gesundem Menschenverstand ausgestattete Bürger zu Extremismus und Verschwörungstheorien verführt. Solche Argumentationslinien passen eher in Schmidt-Rahmers Welt, und da findet er auf vielfältige Weise zu überzeugenden Bildern. Nicht nur durch nachvollziehbare Wutreden, die plötzlich in den Extremismus kippen, sondern auch auf komödiantische Weise: Da entdeckt doch tatsächlich Stefan Diekmann im Kopf von Alexey Ekimov einen Manipulations- und Überwachungs-Chip! Wussten wir’s doch, dass damals, Anfang 2021, die Verzögerung bei der Lieferung von Impfstoffen nur darauf zurückzuführen war, dass Bill Gates und George Soros die Chips noch nicht fertig hatten! Als Diekmann dem Ekimov den Chip erfolgreich wieder herausoperiert hat, redet der übrigens nur noch Russisch. Was für eine makabre, vieldeutige Pointe in diesen Zeiten – köstlich!

Der lange Schluss-Applaus im für eine Repertoire-Vorstellung erfreulich gut besetzten Grillo-Theater war trotz einiger Durchhänger also verdient, zumal das Ensemble durchweg auf hohem Niveau agierte. Und: Auch wenn die Parallelen zur Odysseus-Sage in der Inszenierung trotz erheblicher zeitlicher Präsenz ein wenig untergehen, gelingt Schmidt-Rahmer am Ende eine überzeugende Parallelführung zwischen Corona- und Antiken-Irrfahrt. Eine tolle Videosequenz beschließt den Essener Abend: Im tiefen Dunkel, gerade noch von einer kalten untergehenden Sonne (oder einem untergehenden Mond?) beschienen, schippern wir über Styx oder Nordsee. Odysseus musste bekanntlich – auch das hatte ihm die Zauberin Circe geweissagt - vor seiner Heimkehr noch einmal im Hades vorbeischauen. Auch wir, die wir noch über die Inszenierung berichten können, sind zu Beginn der Pandemie gefährlich nahe am Höllensturz vorbeigeschrammt.