Drama des intellektuellen Irren
„In dieser vollkommenen Abgeschiedenheit und Abgeschnittenheit ist naturgemäß absolute Ruhe“, sagt Konrad. Konrad hat sich in ein stillgelegtes Kalkwerk zurückgezogen. Man hört nichts vom nahegelegenen Sägewerk, nichts von der benachbarten Gaststätte. Nur ein paar Geröll-Lawinen gehen ab. Das Werk erscheint als ein idealer Ort, um wie Konrad an einer Studie über das Gehör zu arbeiten. Doch die Ruhe lässt Konrad keine Ruhe. Er wird irre, wird zum Wahnsinnigen. Mit der Figur des Konrad in seinem Roman Das Kalkwerk hat Thomas Bernhard den Prototypen eines verrückt gewordenen Intellektuellen geschaffen.
Wie in einem Kerker hat sich Konrad im Kalkwerk eingebunkert, einem „freiwilligen Arbeitskerker“, wie es am Theater in der Ruhr in Mülheim heißt. Dort ist dieser Kerker ein silbriger Kubus; naturalistische Hinweise auf ein Kalkwerk oder eine vorstellbare Lebensumgebung fehlen. Felix Römer lässt in seiner One-Man-Show von Beginn an keinen Zweifel daran: Konrad ist nicht mehr richtig im Kopf. Spät erst erfahren wir, dass er nicht allein ins Kalkwerk gezogen ist: Seine Frau, von der wir noch später erfahren, dass sie an den Rollstuhl gefesselt ist, hat ihn begleitet – die Frage drängt sich auf, ob sie freiwillig mit ihm ging oder ob ihr schlicht nichts anderes übrigblieb. Konrad quält sie mit seinen Studien, spielt ihr tagelang kakophonische Laute vor, spricht einen Tag lang nur Worte mit „U“, dann einen Tag lang nur Worte mit „O“ und immer so weiter. Römer spielt das Spiel auch mit dem Publikum: „Urologiiiiee“, musste der Schreiber dieser Zeilen dem verrückten Möchtegern-Wissenschaftler nachsprechen, „Uruguay“ der Herr schräg hinter ihm, und ein anderer bellte auftragsgemäß ein kurzes, zackiges „Unzucht!“ Usurpiert hat Konrad seine Frau, unerträglich muss dieses Leben für sie sein. Wir erfahren es nicht, denn sie hat in der Inszenierung von Philipp Preuss keine eigene Stimme. Römer spielt nicht nur Konrad, sondern auch seine Frau, im schwarzen, ärmellosen Unterkleid und in roten Damenschuhen. Vollständige Klarheit erhält man nicht: Vielleicht lässt Preuss seinen Konrad die Geschichte ja im Rückblick erzählen. Das Ende jedenfalls ist lethal.
„Nichts verschafft mehr Klarheit als ein nahezu vollkommenes Gehör“, triumphiert Konrad. Seine Studie, glaubt er, habe er klar im Kopf. Zu Papier bringt er nichts. Aber er ätzt in typisch Bernhard’scher Manier über die unzähligen dilettantischen Studien seiner Vorgänger – in Worten, die genau auf seine Situation zu passen scheinen: „Tatsächlich hat fast jeder im Kopf das Ungeheuerlichste, aber auf dem Papier steht immer nur das Kläglichste, Erbärmlichste.“ Konrads Erfolge sind so erbärmlich, dass er sein komplettes Inventar verkaufen musste: Möbel, Einrichtungsgegenstände, alles. „Nur den Bacon verkaufe ich nicht“, ruft er trotzig aus. Francis Bacon, ja, dessen Bilder von grotesk deformierten Gestalten mögen passen zu Konrads grotesk deformiertem Geisteszustand, zu dem Sadismus, mit dem er seine Frau malträtiert. Angesichts von Römers Spiel könnte man auf den Gedanken kommen, dass Konrad seine Frau schlimmer quält als Bacon seinen Geliebten George Dyer, vielleicht auch, dass er seine an den Rollstuhl gefesselte Frau als ähnlich entstellt betrachtet wie die Figuren in Bacons Bildern. Aber „die Konrad“ ist wichtig für ihren Mann – für seine Studien und für seine Wahnsinns-Exzesse. Was wird, wenn sie nicht mehr da ist? Felix Römers Spiel deutet es mehr als nur an.
Römer spielt diesen „grotesk komischen Monomanen“ expressiv, ohne jede Furcht vor der Karikatur. Er tut dies bereits seit acht Jahren an der Schaubühne am Lehniner Platz Berlin, deren Inszenierung nun in einer – wenn nicht alles täuscht, nur in Ansätzen veränderten - Neufassung vom Theater an der Ruhr übernommen wurde. Trotz der langen Bühnenerfahrung mit der Bernhard-Figur hat man den Eindruck, dass sich Römer erst im Verlauf des Abends von den Vorbildern der Bernhard-Interpretation emanzipiert. Zu Beginn glaubt man die großen Bernhard-Schauspieler wie Bernhard Minetti zu hören, doch je mehr Römer zu seiner eigenen Spielweise findet, variabel wird, sich entäußert, barmt, tobt, auch das Publikum mit seinen Versuchen über die Wirkung von Kratzgeräuschen auf das Gehör quält, desto stärker überzeugt er schauspielerisch ebenso wie als Bühnen-Figur. Preuss und Römer machen aus Bernhards Roman über den intellektuellen Irren, der sich in seinen Experimenten verliert, ein großartiges Sprachspiel, in manchen Phasen gar beinahe ein Stück experimenteller Literatur. Die nachdenklichen Momente fehlen dabei keineswegs: Konrad hat sich zurückgezogen, um allein zu sein. Aber ist die Einsamkeit Ursache für seine Geisteskrankheit oder führt die Geisteskrankheit zu Konrads Einsamkeit?
Plötzlich wird unser Gehör nicht mehr malträtiert, sondern gestreichelt – mit den kitschigen Klängen des Donauwalzers. Verraten wir nicht zu viel – nicht jeder wird schließlich Bernhards Roman kennen. Aber die Inszenierung endet furios. Mit Konrads kuriosem, geradezu surrealem Alptraum. Mit einem Wiener Walzer und einem Wiener Schnitzel, paniertem Felix und Donauseligkeit. Mit ein bisschen Österreich-Hass und einer unerbittlichen Selbsterkenntnis. Wir sind bei Thomas Bernhard. Nicht die schöne blaue Donau ist es, die dessen Figuren prägt, sondern das bedrohliche Grau des Kalkwerks.