In einer verlorenen Welt
Starr blicken sie umher. Nein sie blicken nicht, denn sie sind blind mit großen, schwarzen Augen durch die kein Licht dringt. Unbeholfen, abgehackt sind ihre Bewegungen wie bei den menschenähnlichen Automaten des 19. Jahrhunderts. Mimik hat keine Chance in den Gesichtern, die wie mit einer Gipsmaske gespachtelt daherkommen. Übriggebliebene einer endgültig vergangenen, analogen Welt: Autor, Influencerin, Korbflechterin, Tierrechtsaktivist waren sie, nun sind sie Seher*innen, die aber nicht in die Zukunft schauen, sondern die Erinnerung bewahren wollen an das Analoge, hat doch die Menschheit längst ihre Körper zurück gelassen und sich in die digitale Welt katapultiert.
Emre Akal spürt in Nachkommen - Ein lautes Schweigen diesen Erinnerungen nach, gräbt nach ihnen in den Hirnen der Seher*innen. Doch wie das eben ist: Das Gedächtnis ist wankelmütig und so sind es oft nur noch Fetzen, die haften geblieben sind, manchmal dünne Fäden. Sie sind wie ein Puzzle, in dem einige Teile fehlen. Bruchstücke, die mit Vehemenz wiederholt werden wie zur Bekräftigung, die aber auf tönernen Füßen stehen. Akal macht es seinem Publikum schwer, seinen Gedanken zu folgen. Sie sind wie der Ball im Ping-Pong-Spiel auf der Bühne und fliegen hin und her. Sind die ersten verzweifelten Versuche des Nachvollziehenwollens jedoch vorüber, lässt man Gedanken einfach einströmen, ergibt sich das Bild einer archäologischen Ausgrabung. Aus jeder Scherbe, jedem Metallstück, jedem Mauerrest können Rückschlüsse gezogen werden. Akal arbeitet nicht mit dem Pinsel, sondern mit Assoziationen.
Annika Lu baut ein „analoges“ Haus, dessen Innenleben sich an der Decke spiegelt. Wenn nicht alles täuscht, wird auf dessen Balkon die eine oder andere „Tüte“ geraucht. Auch die können ja Erinnerungen schärfen oder auch vernebeln.
Regine Andratschke, Alaaeldin Dyab, Clara Kroneck und Julius Janosch Schulte spinnen voll Hingabe Erinnerungsfäden, zelebrieren förmlich jede Bewegung und gestalten alle Sprechpausen höchst beredt - Seher*innen, von denen sich die Phythia von Delphi in punkto Performance noch einiges abschauen könnte.
Dann wird es hell, Bühnentechniker*innen erscheinen, fegen Requisiten zusammen, entkleiden die Handelnden, beginnen, das Haus zu demontieren. Es stellt sich heraus, dass alle einen Workshop erlebt haben, in dem digitale Wesen erleben wollten, wie sich analoges Leben anfühlt. Und wir sind ganz, ganz schnell „geerdet“, wenn wir uns die Menge an Selbsterfahrungskursen vor Augen führen, die unsere Erfahrungen erweitern sollen - meist total 1.0.
Das überwiegend jugendliche Publikum nimmt das Bühnengeschehen offen auf und sofort ist eine Kommunikation im Raum förmlich greifbar, die dem Abend eine vibrierende Lebendigkeit verleiht, die sich in begeistertem Applaus entlädt. Und das ist sie dann wieder, die Magie des Theaters, die ganz ohne Analogizität dann doch nicht funktioniert.