Übrigens …

Bluthochzeit im Wuppertal, Schauspielhaus

Schimmernder Dunst über der entvölkerten Sierra

Ein riesiger roter Mund prägt das Bühnenbild im Wuppertaler Theater im Engelsgarten, ob von Mann oder Frau, weiß man nicht genau. Aber es ist kein Kussmund, wie man ihn bei einer Hochzeit vermuten sollte. Es ist ein Mund, der die oberen Schneidezähne bleckt. Klatsch und Tratsch auf dem Dorfe solle er symbolisieren, sagt Regisseur Peter Wallgram. So mancher Auftritt erfolgt durch die geöffneten Lippen. Doch der Mund weckt noch ganz andere Assoziationen. Es scheint, als wolle er die Figuren verschlingen, die Lorcas tragisches Drama bevölkern.

Er lässt jedenfalls nichts Gutes ahnen. So wenig wie das Messer, das der von John Sander gespielte junge Mann von seiner Mutter erbittet: Trauben will er damit schneiden, Trauben für seine Braut. Überdimensioniert (und in seiner Symbolkraft daher unnötig aufdringlich) erscheint das Messer immer wieder in den Händen der einen oder anderen Bühnenfigur. Bliebe es nur in den Händen, hieße Lorcas Stück nicht Bluthochzeit

Archaische Familienverhältnisse und ein ebenso archaisches Rollenverständnis zwischen den Geschlechtern herrschen in Federico Garcia Lorcas im unterentwickelten Hinterland Andalusiens angesiedeltem Drama aus dem Jahre 1933, aber auch eine heißblütige, zumindest unvergessene Liebe. Der junge Mann bittet seine Mutter nicht nur um das Messer, sondern auch darum, um die Hand einer jungen Frau aus einem noch abgelegeneren Dorf anzuhalten, die er nicht zuletzt aus materiellen Gründen zu heiraten gedenkt. Die Mutter ahnt Böses, hat sie doch ihren Mann und ihren älteren Sohn in einem Familienstreit mit Männern aus dem betreffenden Dorf verloren. Es kommt zur Hochzeit, doch niemals zum Vollzug der Ehe: Noch auf der Hochzeitsfeier wird die Frau von dem verheirateten Leonardo, mit dem sie einst verlobt war, entführt. Der Bräutigam bricht auf, um seine Braut zu suchen; es kommt zu einem Kampf der Rivalen, bei dem beide ums Leben kommen.

Jahrelang war die Lorca-Rezeption in Deutschland geprägt durch die lyrische (manche sagen auch: kitschige) Übertragung von Enrique Beck, der, so sagt man, den spanischen Lorca zum Teil gründlich verfälschte, aber im Besitz der alleinigen Rechte für die Übersetzung der Werke des Autors und Dramatikers ins Deutsche war. In Wuppertal führt Peter Wallgram das Stück auf der Basis der neueren Übersetzung von Rudolf Wittstock zunächst mehr und mehr in die Alltagssprache. Die Musik ähnelt bei der Hochzeit gar beinahe heutigem Polterabend-Getöse. Das tut der Aufführung nicht immer gut, obwohl einige Schauspieler – vor allem Schauspielerinnen – bereits zu diesem Zeitpunkt überzeugen können. Besonders die Frauen sind starke Figuren. Silvia Munzón Lopez gibt die Mutter als wütende, aber auch verbitterte Frau mit präziser Sprache, wenn auch manchmal etwas statischem Spiel; Luzia Ostermann ist ein fröhliches, geerdetes Dienstmädchen von zurückhaltender Herzlichkeit und überzeugt in dieser und in anderen Rollen vor allem mit einer großartigen Singstimme. Insbesondere aber nimmt Julia Meier als Braut vom ersten Moment an mit einer geradezu tragischen Ausstrahlung gefangen. Verschlossen, stets mit einem bitteren Zug um den Mund, auch ängstlich, aber mit gerader Haltung und klarem Verstand ist sie eine Braut, die sich zwar traut, aber nicht freut. „Ich habe mein Wort gegeben, weil ich es geben wollte“, sagt sie – und das klingt ambivalent: entschlossen einerseits, resignativ andererseits. Denn die Braut … liebt einen anderen. Schwiegermutter erkennt gleich, dass diese Frau stärker ist als ihr künftiger Gatte, und wir Zuschauer erkennen bald, was die Braut längst weiß: Gegen den forschen, maskulinen, von Alexander Peiler in der Wuppertaler Inszenierung keineswegs unsympathisch gespielten, wenn auch moralisch nicht ganz integren Leonardo ist der Bräutigam ein Würstchen. Ihm fehlen Kraft und Entschlossenheit – und, soweit mag Mann gleich spekulieren, vermutlich auch eine dem Leonardo gleichwertige sexuelle Potenz. Obwohl: streichen wir das. Über Sex redet man nicht im archaischen Hinterland. Die Braut bleibt Jungfrau bis zum bitteren Ende…

Ein bisschen altmodisch bleiben bis zur späten Pause auch das zu Lorcas Zeiten revolutionäre Stück und trotz wiederkehrender optischer Zeichen und Signale auch Wallgrams Inszenierung. Wallgram bezeichnet Pedro Almodóvar als seinen „Bruder im Geiste“, den Filmregisseur, der eineinhalb Generationen nach Lorca in La Mancha und in der Extremadura sicher noch ähnliche Rückständigkeiten erlebt hat wie der ältere Dramatiker in Andalusien, doch die Modernität des Filmregisseurs geht der Inszenierung lange Zeit ab; die Symbolik erscheint manchmal etwas aufgesetzt. Doch nach der Halbzeitpause erleben wir plötzlich ein anderes Spiel. Leonardo hat die Braut im Galopp entführt, Mutter zur Blutrache aufgerufen, und schon befinden wir uns in einer gespenstischen Szene von Shakespeare’scher Dramatik: Upon the heath, in der spanischen Steppe, wo Lorcas Holzfäller in surrealistischer Verkleidung tanzen und Stefan Walz als der Mond in einer geradezu expressionistischen Sprache der Luft das Messer und der Kampf das notwendige Licht spendet, herrscht eine Atmosphäre zwischen Magritte und Macbeth, mit schimmerndem Dunst über entvölkerter Sierra und geisterhaften Gestalten. Die Poesie ist zurück im Spiel. Die Aufführung leuchtet in einer völlig neuen, faszinierenden Farbe. Auch die Musik wird moderner, rockiger, poppiger. „Blue Moon revisited“ singt Luzia Ostermann – „I only want to say / That if there is a way / I want my baby back with me…“

Um Blutrache geht es in Lorcas Stück. Um archaische Verhaltensmuster. Um überkommene Geschlechterrollen, um die mangelnde Emanzipation der Frau. Und doch: In dieser Inszenierung erkennt man gegen Ende auch die amour fou. Dieser Leonardo ist und war nicht nur böse. Er ist eifersüchtig, ja, aber er ist nicht von Rache beseelt. Was sich zwischen ihm und der Braut abspielt, ist echte, unglückliche, unvollendete Liebe. Doch „wieder ist die Stunde des Blutes gekommen.“