Cupido und schöne Psyche, digital und ohne Sex
Es gibt eine Menge Gründe, warum das Schauspielhaus Bochum sowohl bei der NRW-Umfrage der WELT am SONNTAG als auch bei der den gesamten deutschsprachigen Raum abdeckenden Kritikerumfrage der Zeitschrift Theater heute zum Schauspielhaus des Jahres gewählt wurde. Neben großartigen schauspielerischen Leistungen und einer breiten Palette von Inszenierungs-Stilen gehört dazu zum einen der meist ungeheuer souveräne Umgang der Truppe von Johan Simons mit den an vielen Häusern verkrampft in den Vordergrund geschobenen Rassismus- und Gender-Debatten. Da werden Rollen quer durch den Gemüsegarten mit männlichen, weiblichen oder diversen Schauspieler:innen besetzt, unabhängig davon, welches Geschlecht die dramatische Literatur gerade vorsieht. Und da niemand ein großes Bohei um die ungewöhnlichen Besetzungen macht, interessiert es spätestens nach zehn Minuten keinen im Publikum mehr, ob die Iphigenie maskulin, feminin oder androgyn-divers ist, aber alle haben verstanden, was die Botschaft ist. Zum anderen überzeugt das Haus durch die Erweiterung des Schauspielangebots um immersive und / oder installative Formate. In kaum einem anderen Haus gibt es so tolle genreübergreifende Formate zu besichtigen wie z. B. Susanne Kennedys VR-Science-Fiction „I am“ (siehe hier) oder Suzan Boogaerdts, Bianca van der Schoots und Erik Whiens fotorealistisch-surreale Installation von tableux vivantes namens „Headroom“(siehe hier).
Als einen „psychedelischen…, halluzinierenden visuellen Trip“ hatten Boogaerdt und van der Schoot die Performance von „Headroom“ seinerzeit bezeichnet. Nun haben sie mit ihrem Produktions-Team BVDS erneut zugeschlagen. Underworlds hat eine ganz andere Ästhetik, aber die Beschreibung als psychedelisch und halluzinatorisch trifft mit etwas gutem Willen auch auf diese Produktion zu. Als die Vorstellung beginnt, reizt der assoziative Witz der Zuschauerin in der Reihe hinter mir noch zum Lachen: „Gleich wird sie abgeschossen“, spottet diese angesichts eines fernen unbekannten Flugobjekts weit hinten über die Bühne. Doch was sich da nähert, ist kein chinesischer Spionage-Ballon. Was da aus den Tiefen des Alls heranschwebt an eine in der Ursuppe schwimmende Insel, die mit vier bunt gekleideten Performerinnen bereits ziemlich übervölkert scheint, ist ein Ei. Und das hat bekanntlich keine Spionage-Software an Bord, sondern ist Quell allen Lebens, bei den alten Ägyptern Ursprung der Welt und bei den alten Griechen Sinnbild für den Neubeginn. Boogaerdt und van der Schoot denken den Schöpfungs-Mythos neu. Sie denken ihn mit alten Geschichten und neuen Techniken: Das Team erfindet eine Neufassung des antiken Märchens von „Amor und Psyche“ als digitales Computerspiel, als Sound- und Video-Installation mit realen Körpern und digitalen Avataren. Der alte Apuleius, der das Märchen im 2. Jahrhundert n. Chr. auf der Basis von noch älteren Überlieferungen in die Welt gesetzt hat, kannte nur reale Körper - und er kannte nur Männlein und Weiblein. Boogaerdt und van der Schoot aber fragen sich: Was wäre, wenn die Neuschöpfung dieser Welt nicht nach einem patriarchalischen Muster mit einem klassischen binären Geschlechterbild ablaufen würde, sondern in einem Setting ohne Geschlechtlichkeit, mit asexuellen Wesen, geschaffen von den Designern des Internets, der Videokunst, der künstlichen Intelligenz? Die Aufführung zitiert aus sumerischen Quellen, den ältesten schriftlichen Erzählungen, die die Menschheit bislang entdeckt hat und die auf noch ältere, vorpatriarchalische Traditionen religiöser Verehrung verweisen, auf partnerschaftliche Gesellschaften, die vermeintlich bis in die Altsteinzeit zurückreichen.
Betrachtet man die Bochumer Aufführung, kommt man zu dem Schluss: Diese schöne neue Welt wäre quietschbunt und bevölkert von phantasievoll gestalteten Mischwesen. Es herrschte eine etwas esoterische Atmosphäre der Konfliktvermeidung und eine gewisse sprachliche Eintönigkeit, zumindest was Temperament und Intonation anbelangt. „This was a perfect beginning“, beschreibt der Text die Erschaffung der Welt aus dem fliegenden Ei, denn „die Gegensätze waren noch nicht aneinandergestoßen.“ Und wenn es keine Gegensätze gibt, dann gibt es hoffentlich Harmonie. Leben entsteht, Wesen mit Augen, Mund und Nase, tollen Masken und Frisuren - aber auf der das Geschehen dominierenden und im Vergleich zu den realen Figuren die größere Aufmerksamkeit beanspruchenden Videowand filmen die Wesen einander mit dem Mobile Phone und haben die Kaffeetasse in Reichweite. Ein Paket wird geliefert, eine Kassette, die u. a. ein Buch mit der Erzählung von Amor und Psyche enthält. Wir verstehen: Die homines digitales, selbst schon Fabelwesen, reisen nun mit Psyche in die Unterwelt und erschaffen dabei neue Bilder, die sich zwar an den antiken orientieren, aber die Ästhetik der Internet-Generation des 21. Jahrhunderts imitieren und neue Macht- und Geschlechterverhältnisse definieren. Das geschieht nicht ohne Humor - Kaffeetasse, Energy Drinks, wenn kräftigende Flüssigkeiten gereicht werden sollen etc. seien unsere Zeugen. Aber trotzdem ist der digitale Legastheniker etwas überfordert und zitiert lieber das Team von BVDS, wenn es um eine Gebrauchsanweisung für die Aufführung geht: „Tunneln Sie sich durch die visionäre Reise von Psyche und sehen Sie die Welt im Taumel, eine Welt, die von technologischer Vermittlung wimmelt.“ Es „verschmelzen rituelle Weissagungen und archaische Orakeltexte mit Insta-gefilterten Gesichtern, Reality-Shift-Tutorials, Drachen, Schmetterlingen und Einhörnern.“
Und mit Amor und Psyche. Deren Geschichte war bislang fraglos patriarchalisch geprägt und basierte auf klar definierten binären Geschlechterrollen. Venus und Psyche, zwei heiße Girls von außerirdischer Schönheit, performten ein Eifersuchtsdrama mit so manchem Lug und Trug. Der Gott Amor - auch Cupido genannt, „die Begierde“, nach einer damals zumindest in sexueller Hinsicht klar dem männlichen Geschlecht zugeschriebenen Eigenschaft - schwängerte die schöne Psyche im Schutze der Dunkelheit, ohne dass die wusste, welcher tolle Hecht sie da Nacht für Nacht bestieg: Das ist doch endlich mal ein Beispiel von Männlichkeit, für die der Begriff toxisch wahrlich gerechtfertigt ist. Die Geschichte konnte zu allem Überfluss denn auch nur von einem mächtigen Patriarchen, dem Göttervater Jupiter, zu einem halbwegs versöhnlichen Ende geführt werden - zur Hochzeit von Amor und Psyche nämlich. Ob die junge Dame nach der Hochzeit mit dem unverbesserlichen Frauenhelden glücklich geworden ist, erzählt uns Apuleius nicht mehr.
In Boogaerdts und van der Schoots digitaler Traumwelt sollen „die Gegensätze nicht aneinanderstoßen“, also auch nicht die von Mann und Frau. Zur meist harmonischen, oft sphärischen Musik der Shadow Sisters (der Name ist Programm; wir befinden uns ja in den „Underworlds“) erzählen die beiden die Geschichte als eine Art „spirituelle Allegorie“ aus der Perspektive einer nicht-dualen, nicht-binären, ganzheitlichen Zukunft, in der es weder Patriarchat noch Matriarchat gibt. Das ist eine Weile interessant; die großartigen Video-Animationen sind zudem ein Fest für die Augen. Die konfliktfreie, asexuelle Welt dieser Zukunft garantiert vermutlich ein langes Leben. Vielleicht würde uns aber in einer solchen Welt auf Dauer ein wenig langweilig…