Eine Familie, zermahlen von der Politik
Stalin-Porträts, Militärparaden, Panzer flimmern in Schwarz-Weiß-Bildern über die riesige Leinwand am Ende der Spielfläche. Auf der Bühne selbst stehen starke Frauen. Tanzende Frauen, tanzende Menschen nimmt man durch den durchsichtigen Vorhang wahr, während die Bilder der Gewalt über die Leinwand flimmern. Tanzende Menschen übernehmen bald die Bühne, und wer den Roman von Nino Haratischwili kennt, denkt gleich an die Urmutter in diesem gewaltigen Mehr-Generationen-Epos, an die junge Anastasia „Stasia“ Jaschi, die in einer georgischen Kleinstadt davon träumt, Ballett-Tänzerin in Paris zu werden. Aber bald kippt der Tanz in eine Art Kampf-Performance.
Stasia ist zu Beginn eine frohsinnige, emanzipiert wirkende Frau - „meine Amazone“ wird ihr Mann Simon sie liebevoll nennen. Nur der Hang zur Eigenständigkeit, besser: zur Eigenwilligkeit wird ihr bleiben; der Frohsinn wird schnell vergehen. Der Traum vom Tanzen wird Stasia bald ausgetrieben, so wie auch den lebensgierigen jungen Frauen der Nachfolge-Generationen schnell ihre jugendliche Fröhlichkeit abhanden kommen wird. Und so wie Stasias schöner, nach dem Licht und der Macht drängender Halbschwester Christine die Freude am Licht und an der Macht bald vergeht. Schnell ist daher auch die Anfangsszene mit der in folkloristischer Ausgelassenheit tanzenden Gruppe beendet. Stattdessen dreht sich ein Brummkreisel auf der Bühne. Man denkt an Tschechow, an seine „Drei Schwestern“ im präsowjetischen Russland. Auch Stasia und Christine sind zwei Schwestern, die von einem besseren Leben träumen, im präsowjetischen Georgien. Der Brummkreisel mit seinem melancholischen Klang dreht sich in immerwährender Wiederholung, führt aber nirgendwo hin. Noch mag er auch ein Sinnbild sein für die Unschuld der einigermaßen glücklichen Oberschichten-Familie. Aber während Tschechows Großbürger vor Langeweile vergehen, steht den Jaschis ein aufregendes, leider vorwiegend tragisches Leben bevor. Anders als bei Tschechow versuchen sie es zu gestalten. Aber dabei haben sie keine glückliche Hand. Denn sie werden zermahlen von den Mühlen der sowjetischen und der postsowjetischen Politik.
Stasia und Christine, Stasias künstlerisch begabte (und später im westlichen Ausland erfolgreiche, privat aber todunglückliche) Tochter Kitty, Stasias Enkelin Elene, Stasias Urenkelin Daria - alle von ihnen sind mit großartigen Fähigkeiten gesegnet, aber keine von ihnen wird ihre Lebensziele erreichen. Ihr Weg führt in unauflösbare Abhängigkeiten und in unheilbare Traumata. Allzu sehr ist ihr Schicksal verwoben mit dem Lauf der georgischen Geschichte. Früh fällt Christine in die Hände des „kleinen großen Mannes“, des späteren sowjetischen Geheimdienstchefs Lawrenti Beria - klassische MeToo-Fälle sind harmlos gegen ihre Geschichte, die brutale und tragische Züge trägt. - „Einer muss sich ja auf die Schlachtbank legen, damit die anderen weiterfeiern können“? Nun, keiner wird mehr lange feiern. Stasias Sohn Kostja macht in der sowjetischen Marine und Nomenklatura Karriere und wirkt diktatorisch und zerstörerisch noch von Moskau aus in die georgische Familie hinein. Der erpresserische, egoistische, extrem linientreue Kommunist und Funktionär ist es auch, der die Liebesbeziehungen von Kitty (zu dem Sohn einer regimekritischen, charismatischen Dichterin, die früh mundtot gemacht und von den Sowjets eliminiert wird) sowie von Daria zerstört. Aber auch er verliert seine einzige Liebe, eine exotische Schöne mit geradezu apokalyptischen Zukunftsvisionen, durch politische Umstände. Parallel wird die Geschichte der Familie Eristawi erzählt, die Geschichte der Dichterin Sopio, ihres Sohnes Andro und ihres Enkels Miqa, die sich auf unglückliche Weise mit der der Familie Jaschi verwebt.
Stasia ist im Jahre 1900 geboren und wird 99 Jahre alt werden. Nino Haratischwilis Roman, der im Jahre 2014 auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises stand, greift noch eine kurze Zeitspanne über dieses Leben hinaus. Fiktional erzählt er die Geschichte von vier Generationen ihrer Familie, doch gleichzeitig erzählt er von einem Jahrhundert georgischer und sowjetischer Geschichte. Er berichtet von Liebe und Hass, von Linientreue und Widerstand, von Verbrechen und Gewalt, von der Liebe zum Tanz und der Macht der Schokolade. Dokumentarisch greift er auf Ereignisse der georgischen, sowjetischen und europäischen Geschichte zurück, aber Haratischwili scheut auch nicht vor irrationalen, märchenhaft-übersinnlichen Momenten zurück, die sich vor allem im Motiv der Unglück bringenden, aber unwiderstehlichen Schokolade nach dem Rezept des Ururgroßvaters äußert. Haratischwili fabuliert so ausufernd, so phantasievoll und mit so viel Parallelhandlungen, dass sie für ihre Familien-Saga 1280 Seiten benötigt. Wie soll man das auf die Bühne bringen?
Nun, Regisseurin Elina Finkel nutzt am Schauspiel Essen die großartig verdichtete Bühnenfassung von Emilia Linda Heinrich, Julia Lochte und Jette Steckel, die den Roman bereits im Jahre 2017 im Thalia Theater Hamburg zur Uraufführung brachten. Finkel gelingt es, die Geschichte ohne wesentliche Auslassungen in weniger als vier Stunden zu erzählen. Kurze (im Verlauf der vier Stunden länger werdende) Spielszenen wechseln mit verbindenden oder moderierenden erzählerischen Passagen ab, die die wunderbare Poesie der Vorlage zum Klingen bringen. (Trixi Strobel ist Niza, die Ich-Erzählerin des Buches, und führt immer mal wieder als Conférencière und Moderatorin durch die Handlung.) Rhythmus und Timing der Inszenierung sind perfekt; musikalische Elemente - meist georgische Volkslieder oder sowjetische Propaganda-Märsche - strukturieren die Aufführung, die bisweilen ungeheure Intensität erlangt. Innerhalb von Sekunden gelingen krasse Stimmungswechsel. Der Tanz, vor allem für die weiblichen Figuren der Geschichte Sehnsuchts- und Fluchtpunkt, wird immer wieder eingeflochten in die Handlung, ist aber keinesfalls immer befreiend: Auch Sopias Verhaftung und ihre Deportation als angebliche Dissidentin wird als Ballett, als Tanztheater gezeigt.
Die zu Beginn immer wieder durch heitere oder zumindest gelassene Szenen aufgelockerte Atmosphäre spitzt sich bereits lange vor der Pause zu. Das empfinden manche Zuschauer als „schwere Kost“, wie man hören konnte. Dabei inszeniert Elina Finkel durchaus mit leichter Hand, und sie streut immer wieder auch wunderschöne poetische Momente ein. Aber sie inszeniert auch stringent - und brutale Szenen werden nicht geschönt. An der Figur der Stasia lässt sich ablesen, wie die Familie von Generation zu Generation stärker auseinanderdriftet und das Leid immer größer wird: Stasia verbittert immer mehr, taumelt aber auch zunehmend einer Verwirrtheit entgegen, die zwar pathologisch ist, deren Ursache aber wohl auch in der Verdrängung liegt. Doch bei allem Bemühen um Selbstschutz durch Verdrängung wird die alte Stasia auch zu einer weisen Familienmatriarchin, die durchschaut, ohne viele Worte zu benötigen.
Die Frauen sind in dieser Geschichte ohnehin die stärkeren Charaktere. Schauspielerisch sind in Essen die Männer den Frauen allerdings ebenbürtig. Das hammerstarke Ensemble, aus dem Ines Krug mit der überzeugenden Entwicklung der Figur der Stasia über fast 100 Lebensjahre sowie Alexey Ekimov insbesondere in seinen Rollen als Sopio und deren Sohn Andro herausragen, wächst über sich hinaus und macht die Inszenierung zum stärksten Abend, den der Schreiber dieser Zeilen seit langem am Schauspiel Essen gesehen hat.
P.S.: Am Samstag, dem 11. Februar, liest die Autorin Nino Haratischwili im Grillo-Theater aus ihrem jüngsten Roman „Das mangelnde Licht“, und einen Tag später, am 12. Februar 2023 um 19.00 h, gastiert das Royal District Theatre Tbilissi in Essen mit Haratischwilis eigener Inszenierung ihres Theaterstücks „Der Herbst der Untertanen“