Ein theatralischer Versuch gegen das Vergessen
Es ist halb acht, dichtgedrängt stehen wir vor der geschlossenen Tür zu den Bochumer Kammerspielen. Nur zwölf Personen, die vorher angesprochen wurden, werden eingelassen. Ratlosigkeit. Dann öffnet sich die Tür erneut. Die Zwölf sitzen auf der Bühne und vor ihnen steht Ward Weemhoff (einer der Chefs von „De Warme Winkel“) und redet in charmant gebrochenem Deutsch auf die Gruppe ein. Obwohl er ins Mikrofon spricht, wird seine Rede von den Saalgeräuschen verschluckt. Dann wird es still und wir dürfen mithören: Es geht um die Geschichte des KZ Dachau und die Befreiung am 29. April 1945 durch die Amerikaner. Alle Lagerinsassen wurden von ihren Regierungen abgeholt, nur die niederländischen Widerstandskämpfer warteten wochenlang vergeblich auf ihre Heimholung, bis sie selbst einen Bus von den Amerikanern organisierten und heimfuhren. Dort wurden sie zunächst nicht als Helden begrüßt, sondern zur Entlausung und Desinfizierung in Quarantäne gesteckt. Ein Buch darüber diente dem Vater von Ward Weemhoff als Grundlage für ein Filmprojekt, das er 1993 realisieren wollte, das Skript war fertig, Weemhoff jr. hält es in der Hand. Zum Dreh kam es damals nicht, da das Thema von dem gleichzeitigen Filmerfolg „Schindlers Liste“ besetzt war.
Dann wird die Gruppe in einen riesigen Holzkubus, der mehr als die Hälfte der Bühne umfasst, geschickt, angeblich handelt es sich um ein Filmstudio, wir sehen nichts, hören nur von der Beklemmung der Eingesperrten, ihr Stöhnen, improvisierte Schreie und Peitschenhiebe. Dann wird es stockdunkel im Saal und auf der Bühne, die zwölf Auserwählten tasten sich mit Taschenlampen auf ihre Plätze im Saal und das eigentliche Spiel beginnt.
Hier und heute soll das Filmskript als Theateraufführung realisiert werden. Um einen Tisch herum sitzen außer den beiden Chefs Warm Weemhoff und Vincent Rietveld die Niederländerin Lieve Fikkers als Kamerafrau (die später viele Szenen als Live-Video auf die Wand des Holzkubus werfen wird) und vom Bochumer Ensemble Marius Huth, Risto Kübar, Mercy Dorcas Otieno und Lukas von der Lühe.
Es beginnt ein Ringen um die Frage, wie im 21. Jahrhundert die Erinnerung an das Grauen der nationalsozialistischen Verbrechen lebendig erhalten werden kann. Dabei verzahnen sich verschiedene Meta-Reflexionen und Zeitebenen: die Vierziger (Dachau und danach), die Neunziger (Filmskript und Vatergeneration) und das Heute. Auch die Frage, ob das Ganze nur ein Biopic der Weemhoffs werden könnte, wird gestellt und entschieden zurückgewiesen.
Mitten im Gespräch wirft Risto Kübar sich schreiend zu Boden, beschuldigt sich als „Abschaum“, denn nur der habe überlebt, klagt sich an, einem Mithäftling Brot gestohlen zu haben, wälzt sich in einer Zwangsneurose. Wenig später steht Vincent Rietveld auf und beschreibt in einem ergreifenden Monolog das Scheißhaus im Lager als einzigen Ort individuellen Rückzugs, möglichen Glücks. Das Publikum hält den Atem an.
Dann ziehen sich alle aus dem Ensemble gestreifte Haftanzüge über, verschwinden mit der Kamerafrau im Holzkubus und auf der Außenwand erscheinen erschütternde Szenen aus Käfigzellen, aus denen heraus Häftlinge ihre Arme mit Blechnäpfen recken und um einen Schlag dünner Wassersuppe betteln. Für einen gegebenen Nachschlag droht donnernd Strafe, die uns im Bild erspart bleibt. Stattdessen werden die Gesichter der Häftlinge von erstarrenden, cartoonartigen Masken mit aufgerissenen Augen überzogen. Sie verfremden und entmenschlichen. Grotesk, unheimlich.
Im schnellen Wechsel der Performance-Formale folgt eine anrührende Szene am Bühnenrand, wenn Rietveld (als Vater) mit dem Sohn Weemhoff das Schubertlied „Allerseelen“ singt und sie sich dabei filmen. Nach dieser Idylle wird es wieder hart: Beide holen sich aus dem Kubus blonde Langhaarperücken (Haare der kahlgeschorenen Häftlinge?), ziehen lange SS-Ledermäntel an, bevor im Video einem von ihnen eine Mistgabel in den Leib gerammt wird. Ist er tot? Er liegt dann auf einem Obduktionstisch auf der Bühne, während um ihn herum weiter über das generationsübergreifende Erinnern, über die Möglichkeit fiktionaler Aufarbeitung diskutiert wird. Dabei wird der Vorwurf gegen „die Deutschen“ erhoben, dass sie sich inzwischen mehr mit ihrem Leid durch Bombardierung und Vertreibung beschäftigen als mit ihrer Schuld. Dass sie sich medial „ethisch und ästhetisch“ zu Opfern stilisieren. Doch dann kommt man immer wieder zu der Frage nach der grundsätzlichen Möglichkeit einer Fiktionalisierung, der Darstellbarkeit singulärer Verbrechen wie der Shoah, durch welche Medien auch immer. Tatsächlich wagt sich die Bochumer Aufführung mit kontroversen ästhetischen Mitteln, vom Snapchat bis zur Partizipation des Publikums, an eine Beantwortung. Es bleibt bei einem Versuch, der trotz vieler starker Bilder nicht in allen Ansätzen überzeugt.
„Hände weg von unserem Holocaust!“ ruft Markus Huth, bevor alle auf der Bühne zu tanzen beginnen während auf der Holzwand ein Video zeigt, wie das Ensemble auf der gemeinsamen Busfahrt nach Dachau während der Probenzeit auf einem Rastplatz ausgelassen tanzt.
Wir stehen selbst enttäuscht und sehn betroffen, den Vorhang zu und alle Fragen offen.