Übrigens …

Der Würgeengel im Bochum, Schauspielhaus

Schiffbruch einer Krisengesellschaft

Der Würgeengel betitelt der Theaterzauberer Johan Simons sein Bühnenstück nach dem gleichnamigen surrealistischen Filmklassiker des mexikanisch/spanischen Filmemachers Luis Buñuel aus dem Jahr 1962. Ursprünglich sollte der Filmtitel allerdings Die Schiffbrüchigen von der Straße der Vorsehung lauten, doch dann war Buñuel fasziniert von der Assoziationskraft des Titels Der Würgeengel (genauer: El Ángel exterminador), unter dem sein Freund José Bergamín einen Text geplant hatte, zu dem es aber dann nicht kam. Daraufhin übernahm Buñuel den Titel für seinen Film und überlässt es uns bis heute - inzwischen gemeinsam mit Johan Simons - die Bedeutung des „von Gott zum Töten ausgesandten Engels“ und der eingeschlossenen Gesellschaft herzustellen. Weder im Film noch im Theaterstück wird der Engel erwähnt, und auch die Lämmer, die im Film sowohl in die Villa als auch später zu den Eingeschlossenen in die Kirche trotten, kommen auf der Bühne nicht vor. Bei Buñuel bietet sich die Assoziation zu Moses 2;12 an: die Blutzeichen der frisch geschlachteten Lämmer an den Türpfosten der Häuser des auserwählten Volkes zum Schutz vor der Ausrottung durch den Todesengel beim Auszug der Israeliten aus Ägypten. Die Lämmer als Hoffnungsträger. Da hat Simons eine bessere Idee.

Doch schauen wir zunächst auf die Gemeinsamkeiten. In beiden Fällen sind Menschen des gehobenen Bürgertums unfähig, den Raum, in dem sie sich befinden, zu verlassen, obwohl die Türen nicht versperrt sind. Sie bleiben Nächte und Tage eingeschlossen, Hunger, Durst und Kälte breiten sich aus. Ein Kranker stirbt. Es kommt zu Wahnvorstellungen, ein Sündenbock wird als Opfer zur Befreiung ausgeguckt, sein Blut gefordert. Auf der Bühne endet es mit der Frage: „Was hat das alles zu bedeuten?“ nach leise verklingendem Gesang.

Die Bühnenfassung hält sich eng an den Filmtext, doch tut sich da ein Problem auf: Im Film reden zwanzig Personen miteinander, erscheinen als Charaktere, auf der Bühne sind es nur fünf Figuren, denen die Texte wahllos zugeordnet werden. Und auch die Frage „Warum sind alle weggegangen?“, die sich durch das Bühnenstück zieht, ist da gegenstandslos, denn sie bezieht sich im Film auf die Bediensteten, die zu Beginn das Haus ungehindert fluchtartig verlassen. Die Leerstellen verstärken zweifellos noch das Irreale - Surreale.

Johann Simons führt uns nicht in einen vornehmen Salon, sondern in eine unaufgeräumte Grundschulklasse mit dem entsprechend kleinen Mobiliar. Im Hintergrund eine breite Leinwand, auf der Live-Videos von Bühnenausschnitten erscheinen, mal die verkrampften Hände des Sterbenden, mal das große Auge eines Mitspielers (wer mag, assoziiert „Ein andalusischer Hund“). Bilder, die eine von Geisterhand am Bühnenrand bewegte Kamera punktgenau erzeugt. Im Titel werden „Psalmen und Popsongs“ angekündigt, für beides steht entsprechende Begleitung bereit: links eine Kirchen- rechts eine Hammondorgel (gespielt von Laura Wasniewski und Moritz Bossmann in clownesken Karoanzügen.)

Auf einem der Stühlchen sitzt im schwarzen Smoking Alexander (Alexander Wertmann vom Bochumer Ensemble), auf dem Boden zwischen dem Mobiliar krümmen sich die vier anderen Figuren: Anne Cathrin und Roman (Anne Cathrin Butz im Chanel-Jäckchen und Roman Kanonik, beide aus dem Ensemble Leipzig), Marius im moosgrünen Samtanzug (Marius Huth, Bochum) und schließlich der strahlende Star des Abends, Sandra (die vielfach preisgekrönte Sandra Hüller im lachsroten Partykleid). Die skurrile Idee, alle mit ihren bürgerlichen Vornamen anzureden, könnte einen vagen Realitätsbezug vermuten lassen in all dem irrealen Gewirr.

Alle erheben sich und stimmen die Bach-Motette „Jesu, meine Freude“ am Bühnenrand an. Immer wieder werden im Laufe des Abends - chorisch oder als Solo - Songs eingefügt, es reicht von Bachs Schreckenskantate „O Ewigkeit, du Donnerwort“ bis zu „Lunatics“, einer Eigenkomposition von Moritz Bossmann, über Pop der Achtziger und Trip-Hop der Neunziger. Doch immer wieder verliert sich der Gesang in hysterisches Kreischen, Heultöne, Gebrüll oder gespenstiges Röcheln.

Irgendwann öffnet sich in der Bühnenrückwand eine Tür, die klaustrophobische Krisenstimmung scheint aufgebrochen, ein Kind betritt entspannt den Raum, greift nach dem Mikrofon und beginnt einen Vortrag über den Kopffüßer „Perlboot“. (Im Programmheft erfahren wir, dass das Mädchen Mina Skrövset - etwa 11 oder 12 Jahre alt - den Text ihres Vortrags selbst verfasste.) Auf der Leinwand erscheinen interessante Illustrationen zum Text und während es ausschließlich um Fakten geht, schleicht sich die Sorge ein, dass dieses Wunderwerk der Natur in seiner Heimat Neukaledonien im Südpazifik vom Klimawandel bedroht sein könnte. (Da ist es ein beklemmender Zufall, dass wenige Stunden zuvor eine Demonstration der Gruppe „Fridays For Future“ auf Greta Thunbergs Spuren am Bochumer Theater vorüberzog.) Natürlich gibt es Szenenapplaus und Mina verlässt gut gelaunt die Bühne, doch hinter ihr schließt sich die Tür, alle bleiben zurück in ihrer Erstarrung und Verwirrung. Später kommt Mina noch einmal, diesmal mit einem Vortrag über die Schwarmlogik der Bienenvölker. Wieder folgt ihr niemand aus dem Raum, doch schleicht sich ganz leise die Hoffnung oder gar die Gewissheit ein, dass diese Generation der klugen Kinder den Ausweg aus der Ausweglosigkeit der Krisengesellschaft finden kann. Alle, außer Marius, der die Zukunft nicht mehr erleben wird, legen ihre schicken Klamotten ab und schlüpfen in weiß-transparente Kostüme. Vielleicht ein Zeichen dafür, dass sie gesellschaftliche Zwänge abzulegen und die geheimnisvolle Lähmung zu überwinden beginnen. Doch noch herrschen Hass und Resignation. Dann dreht sich alles zum Beginn: Sandra erwähnt das Schlachten unschuldiger Lämmer als Erlösung, ein Bezug nur zum Titel und zum Film, bevor die Eingangslieder „Liebster Jesus“ und „My Future“ von Billie Eilish (arrangiert von Moritz Bossmann) noch einmal angespielt werden. Mina erscheint im Imkerschutzanzug unter den Eingeschlossenen. Diesmal ohne Text. Aber sie ist da. Man ist in einer Schulklasse. Vielleicht bringt die angedeutete Wiederholung in einem zukunftsweisenden Raum Antworten auf die offenen Fragen, vielleicht gar Befreiung aus dem Loop der Krisen.

Johan Simons schafft mit seinem grandiosen Ensemble ganz neue Bilder und Assoziationen, ohne die aktuellen Probleme wie Klimakrise oder Pandemie konkret zu benennen. Dabei ist es hilfreich, den Film in Erinnerung zu haben.