Übrigens …

Peer Gynt im Bonn, Theater

An den Verhältnissen gescheitert

Ein bewegliches Metallgerüst bestimmt die vom Regisseur höchstselbst gestaltete Bühne. Es ist in einzelne Kammern unterteilt, in denen ab und zu die Schauspieler und fast immer die Live-Musiker sitzen. Vor allem, wenn es zu einer großen Bühnenskulptur zusammengesetzt ist, nimmt das Gerüst eine beeindruckende Gestalt an. Auf Peer Gynts Seereise, die ihn gegen Ende wieder zurück in seine norwegische Heimat bringen soll, wird es zu einem mächtigen Schiff. Vielleicht mag es auch ein stolzes Schiff sein; Peer ist schließlich zu fragiler Macht und fragwürdigem Reichtum gekommen. Aber untergehen wird das Schiff trotzdem. Denn es ist wie Peer: großspurig, aber nicht stabil.

Großspurig: So kennen wir Peer Gynt aus zahlreichen Ibsen-Inszenierungen. Natürlich ist er ein Aufschneider. Ein Lügenbold, ein unzuverlässiges Großmaul, ein Hallodri. Aber Timo Kählert zeigt in Simon Solbergs Inszenierung am Theater Bonn noch andere Facetten von Peers Persönlichkeit. Der Regisseur stellt die Frage, wieso Peer eigentlich so geworden wie er ist (oder wie ihn Generationen seit der Uraufführung von Ibsens Drama im Jahre 1876 gesehen haben). So eindimensional wie es bei seinem Schöpfer scheint, kann Peers Psyche nicht sein. Solberg schaut sich Peers soziales Umfeld an: Sein Vater, ein Trunkenbold wie der Sohn, hat sein Vermögen verprasst, seine Mutter vermag ihm keine Führung zu geben, im Dorf ist er (und ist wohl auch seine Familie) Außenseiter. Heute spricht man da wohl von prekären Verhältnissen. Im sozialen Gefüge des Dorfes handelt es sich bei der Familie Gynt wohl gar um Absteiger. Das bedeutet Druck. Selbstbewusstsein zu entwickeln, fällt in solchen Verhältnissen schwer – dafür muss man sich wohl ab und an in aufschneiderische Geschichten flüchten. Fast lyrisch wirkt das phantasievolle, irreale Jägerlatein, das er gleich zu Beginn des Stückes der skeptischen Mutter Aase auftischt: Der Ritt auf dem Rentierbock durch Schnee und Eis auf einem schmalen Berggrat gehört in Peers Märchenwelt. In der Erzählung steckt nicht nur großmäuliges Protzen, sondern auch eine tiefe Sehnsucht. Timo Kählerts Peer ist, wenn er nicht in seinen hochfliegenden Traumwelten weilt, eher ängstlich, verdruckst, manchmal gar unterwürfig. Wenn es aber märchenhaft wird, trägt die großartige Live-Musik von Philip Mancarella und Sue Schlotte ihn fort. Dann phantasiert er dahin, mal als Vampir, mal hoch zu Ross auf einer Wolke, die aussieht wie ein Pferd. Sein Freund Mats (Wilhelm Eilers) begleitet seine Taten komödiantisch; sein Vater Jon (Bernd Braun) eher drohend. Beide tauchen in Ibsens Drama nicht auf; ihre Existenz weist früh darauf hin, dass es Solberg neben der Ibsen’schen Zwiebel-Geschichte auch darum geht, Peers Seele zu erkunden. Die ist – selten, aber immerhin – durchaus fähig zu Einfühlung und Empathie: Peers Angst vor Mutter Aases Tod und seine spätere Trauer um die Verstorbene wirken glaubhaft. Später tauchen Alter Egos des zwielichtigen Helden auf, die sich miteinander auseinandersetzen: Peer flieht zwar vor der Selbstreflexion, aber er kann den Gedanken nicht immer entkommen.

Ein bisschen holterdipolter geht es durch die Szenen; Solbergs Inszenierung von Ibsens Mammut-Stück währt gerade mal eindreiviertel Stunden. Schnell wird die Ingrid beschlafen, die Tochter des Haegstadbauern, die eigentlich gerade jemand anderen heiratet. Bei Lydia Stäubli ist Ingrid ein etwas herbes, aber witzig-selbstbewusstes, emanzipiertes schwyzerdütsches Mädel. Gefühlt noch schneller geht die Troll-Szene vorüber: Die Fabelwesen werden auf Alois Reinhardt als grüne Dame reduziert, die Peer den für sein Leben und seine spätere versuchte Selbst-Reflexion entscheidenden Unterschied zwischen dem menschlichen und dem Troll’schen Lebensmotto beibringt: „Sei du selbst“, fordert der Mensch“, „sei dir nur selbst genug“, begnügt sich der Troll mit einer durchaus egozentrisch auszulegenden Losung. Das Baby, das Peer mit der Troll-Dame zeugt, ist schwerstbehindert – „So verkrüppelt ist deine Seele“, heißt es. Und flugs bricht Peer zu seiner abenteuerlichen Weltreise auf, zwar auf der Suche nach Macht und Reichtum, aber ohne echtes Commitment. Zu verschiedenen Musik-Variationen werden verschiedene Rollen ausprobiert: Kaiser will Peer werden und ist doch nur auf der Suche nach sich selbst. Mit Rollenspielen wird er sich nicht finden…

Ob seine Weltreise, seine Wandlung zum Oligarchen und Leuteschinder real ist oder auch nur ein "Hirnspuk", wie Peer einmal die Trolle bezeichnet, lässt Solberg offen. Anitra ist gestrichen; Peers marokkanische Abenteuer werden nur angedeutet. Sein „fauler Reichtum“ gründet sich, wie Mutter Aase einmal bemerkt, „auf Tabak, Rauschgift und Menschenhandel“. In dem Maße, in dem Peer die Bodenhaftung verliert, verliert die Inszenierung vorübergehend an Stringenz. Kaiser wird Peer letzten Endes nur im Irrenhaus, in dem ihm der deutsche Arzt Dr. Begriffenfeldt bedeutet, dass „die reine Vernunft … verstorben“ sei. Das könnte er auch auf die Inszenierung gemünzt haben: Tatsächlich dominiert nun eine Zeitlang Action anstelle von Analytik die Aufführung. Mit dem Auftauchen des Knopfgießers (Birte Schrein, die auch die Mutter Aase gespielt hat) findet die Aufführung jedoch zurück zu Relevanz und Aussagekraft. Der Knopfgießer will Peers missratene Seele einschmelzen: Die habe schließlich zumindest noch Materialwert.

Ja, Peer hat seinen Reichtum nicht genutzt. Peer war sich stets nur „selbst genug““, wie eine Kröte, die im Sand sitzt und keine weiteren Ziele hat. Peer war die Zwiebel ohne Kern, wie wir das von Ibsens Drama her kennen und wie Peer es jetzt selbst realisiert. Aber noch einmal findet der Hallodri zu einer Überlegung, die man ihm kaum zugetraut hätte: „Unser Leben ist wie eine Sternschnuppe. Wir leuchten kurz auf, und dann ersticken wir im ewigen Nichts“, erkennt er, reflektiert, verzweifelt, traurig. Solveig (ebenfalls Lydia Stäubli) hat dreißig Jahre lang auf ihn gewartet – nicht untätig, nicht gottergeben wie bei Ibsen, sondern als aktive Gestalterin eines Heims und ihres Lebens. Sie heißt Peer willkommen, nimmt ihn wie er ist: „ein Kaiser, ein Lügner, ein Dichter.“ Timo Kählerts Peer, der Naturbursche, das "Tier unter Tieren", wie es zu Beginn einmal geheißen hatte, der sich der frischen, heutigen, bodenständigen Solveig nicht würdig gefühlt hatte, ist auch an seiner sozialen Herkunft gescheitert, an seiner Angst, an seiner Unfähigkeit, sein Potenzial zu nutzen und sinnvoll einzusetzen, an seinen psychischen Beschränkungen. - "Das ist das Verdammte an den kleinen Verhältnissen", weiß Solveig, "dass sie die Seelen klein machen."