Abstieg und Demontage einer Lichtgestalt
Da sind sie wieder, die Schnüre, die Strippen, die Fäden, die von der Decke bis zum Bühnenboden reichen und zwischen denen acht Schauspielerinnen in den nächsten zweieinviertel Stunden ihre Choreographie performen werden. Wir kennen das Bild aus dem vorherigen Kooperationsprojekt des Düsseldorfer Schauspielhauses und des Schauspiels Köln, vom „Reich des Todes“ (siehe hier), ebenfalls einem Text von Rainald Goetz und ebenfalls inszeniert von Stefan Bachmann. Damals ging es um die Folterszenen von Abu Ghraib, um - vorwiegend männliche - Politiker, die unter dem Vorwand des Kampfes für die Demokratie den skrupellosen Ausbau ihrer Macht betrieben. Jetzt sind es wieder Männer, die die Erzählung dominieren; wieder ist es ein extrem maskulines Stück, eines, in dem toxische Männlichkeit eine Rolle spielt. Und wieder wird es ausschließlich von Frauen gespielt. Das Machohafte der Geschichte wird so gebrochen, wie die Schauspielerin Ines Marie Westernströer in einem Interview mit dem WDR andeutet, vielleicht wird da auch Distanz aufgebaut. Ganz sicher wird das satirische Element erhöht. Denn Johann Holtrop ist Wirtschaftskrimi, Gesellschaftsportrait, Kapitalismuskritik - und eine großartige Wirtschaftssatire. Anders als von manchen Kritikern behauptet, ist es kein nur historischer Blick in eine abgeschlossene Vergangenheit. Da mag Kanzler Schröder als Krönung der gesellschaftlichen Aktivitäten der Patriarchen-Gattin Kate Assperg bei deren monatlichem „kleinem Frühstück“ (dem größten gesellschaftlichen Event im Provinz-Kaff des Firmensitzes) auftauchen, da mag Johann Holtrop in den Finanzskandal der Hypo Alpe Adria verwickelt sein, ja: viele weitere Referenzen an die Polit- und Wirtschaftskrisen der sogenannten Nuller Jahre sind in Goetz‘ brillantem Roman verwurstet - aber die Verhaltensweisen der echten und vermeintlichen Alphatiere in Wirtschaft und Politik, ihre Tricks und Täuschungen (und ihre Selbsttäuschungen!) leben auf den Führungs-Etagen unverändert fort. Nicht bei allen Akteuren in dieser faszinierenden Parallelwelt wohlgemerkt, aber bei vielen.
Langfristig, wirklich langfristig erfolgreich, so hat schon in den 1980er Jahren eine US-amerikanische Studie herausgefunden, sind oft diejenigen Unternehmen, deren CEOs man kaum kennt, weil sie nicht die Öffentlichkeit suchen, sondern sich auf seriöse Team-Arbeit konzentrieren. Johann Holtrop gehört nicht zu den Liebhabern des Understatements - und nicht zu den Liebhabern von Teamarbeit. Von „Verachtung als Prinzip von Führung“ ist einmal die Rede. Melanie Kretschmann, im ein bisschen zu blauen Anzug, mit ein bisschen zu blonder Lichtgestalt-Frisur, tanzt sich als selbstgefälliger, selbstverliebter Protagonist durch die Strippen, kaum einmal innehaltend, um sich Zeit für seriöse Analysen zu nehmen. Holtrop ist ein nassforscher „Entscheidungshysteriker“, der durch seine Hyperaktivität überdeckt, was dann später doch auffällt: „Im Konkreten wusste er nichts und bluffte schamlos.“ Holtrop selbst dagegen „fand sich…, auch wenn er vor langer Zeit einmal gespürt hatte, dass das eine fundamental unzulässige Empfindung war, zuletzt unweigerlich doch: erstaunlich gut gelungen, ein besonders geglücktes Exemplar Mensch." Und so produziert er sich auch schon mal auf lächerliche Weise vor einer jungen hübschen Journalistin, wobei man anerkennen muss, dass er diese geschickt für seine Zwecke einzusetzen weiß. Das Publikum im Düsseldorfer Schauspielhaus lacht, und der Leser des Buches, weniger beeinflusst von den zappelnden Gestalten auf der Bühne als von seinen Erinnerungen und Erfahrungen im Hinblick auf manch einen narzisstischen Topmanager bei seinem Arbeitgeber oder Geschäftspartner, glaubt vage den einen oder anderen (fast immer männlichen) Bekannten zu erkennen. Das Düsseldorfer und Kölner Premierenpublikum dürfte in Teilen tatsächlich frühere Verhandlungspartner und Freunde wiedererkennen: Holtrop trägt Züge des hyperaktiven Unternehmenslenkers und späteren Finanzinvestors Thomas Middelhoff, des einstigen Vorstandsvorsitzenden der Bertelsmann AG und Arcandor-Chefs, einem wahren Wunderkind der deutschen Wirtschaft, der bei seinem Abgang aus den renommierten Unternehmen erst verbrannte Erde im Medien-Konglomerat und später einen in Trümmern liegenden Warenhaus-Konzern mit neuem, schnittigem Namen hinterließ. Köstlich bösartig karikiert, vermag man auch Liz und Reinhard Mohn zu erkennen (stark Anja Laïs als Kate Assperg und Lea Ruckpaul als mehr und mehr hinfälliger Unternehmens-Patriarch Berthold Assperg), und kurz, aber herzlich feiert man ein Wiedersehen mit der Hilfe suchenden Ex-Milliardärin und einstigen Arcandor-Großaktionärin Madeleine Schickedanz.
„Hass“ haben viele Literaturkritiker dem Autor Rainald Goetz unterstellt, Hass auf den Kapitalismus und seine Protagonisten. Middelhoff, der im Jahre 2014 wegen Untreue und Steuerhinterziehung zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt wurde, war ein Mann, auf den man sicher Hass entwickeln kann. Sein Charisma wird im Roman voller Ironie, aber durchaus glaubhaft vermittelt; auf der Bühne geht einiges davon verloren. Aber gerade die Ironie und der Witz, die in Goetz‘ Roman stecken, sprechen gegen Hass als vorrangiges Motiv bei der Entwicklung der Geschichte. Goetz gelingt eine für einen wirtschaftsfremden Beobachter überraschend präzise Einfühlung in die Denk- und Handlungsweise mancher Bosse, in ihre mangelnde Bodenhaftung ebenso wie in ihre Ängste und Illusionen und ihr durch Erfolg und den Verlust des Kontakts zur Basis abhanden gekommenes Urteilsvermögen. Großartig trifft (und karikiert) er die aufgeblasene, floskelhafte Wirtschaftssprache. Richard Kämmerlings hat in seiner Rezension des Romans in der WELT die Überlegung angestellt, ob nicht in der Figur des Johann Holtrop auch ein kleines bisschen Rainald Goetz stecken könnte - der aufgehende Star der Wirtschaftswelt, der zur Erheiterung des Düsseldorfer Publikum „the art of business“ mit der Kunst und der Literatur vergleicht und sich als verhinderten Schriftsteller feiert, trägt tatsächlich auch Züge des aufgehenden Sterns am Himmel der Pop-Literatur, als der Goetz gesehen wurde. Hass? Nein, das scheint in vielerlei Hinsicht der falsche Begriff zu sein für Goetz‘ Motivation. Eher ist sein Roman eine in ein brillantes Sprachkunstwerk verpackte, hochironische Analyse einer Gesellschaft mit all ihren Bluffern, ihren (stets nur vorübergehenden) Gewinnern und ihren Verlierern.
Die Sprache erscheint dabei beim Lesen keineswegs theatertauglich. Bandwurmsätze, Worterfindungen, anspruchsvolle Beschreibungen aus der Welt der Ökonomie erscheinen schon für normales Sprechtheater als Herausforderung. Bachmann aber lässt - wie schon beim „Reich des Todes“ - singen: er hat aus den kaum zu bewältigenden Satzungetümen eine großartige Partitur geschaffen: Aus chorischen Passagen und individuellem Sprechgesang entsteht, unterstützt durch vier Live-Musiker in einem Orchestergraben, ein grandioses Wortkonzert zu hochartifiziellen, ästhetisch überzeugenden Bildern. Und das funktioniert offenbar auch in kognitiver Hinsicht:Nach kurzer Eingewöhnungszeit vermag man dem Inhalt leicht zu folgen. Die Ironie wird unterstrichen durch genau ausgearbeitete, artifizielle Bewegungs-Choreografien. Wenn Goetz in seinem Roman hyperrealistisch exakt beschreibt, wie Thewe sich am Automaten einen Kaffee zieht, ist das eine hübsche, etwas irritierende sprachkunsthandwerkliche Miniatur - wenn Ines Marie Westernströer sich zum rhythmischen Klang eines musikalischen Textes an der Kaffeemaschine mimisch und gestisch verschraubt und verrenkt, ist das eine perfekte Umsetzung des Textes, die zum Lachen reizt. Das Artifizielle ermöglicht es den Schauspielerinnen, ihre Figuren mit aussagekräftigem Körpertheater zu charakterisieren und gleichzeitig zu karikieren, ohne sie an die Comedy zu verraten. Westernströers Thewe, ein Old School Ossi, dessen Entlassung den Untergang Holtrops einleitet, begehrt innerlich kurz auf gegen seine fristlose Kündigung - und windet sich dann als schüttere, scheue, zutiefst gedemütigte Elendsgestalt am Boden. Wie die großgewachsene, junge Schauspielerin den immer kleiner werdenden alten Mann verkörpert, ist ein Ereignis. Ähnlich grandios darf Cennet Rüya Voss den pedantischen Chefjustiziar Blaschke karikieren, klein, verdruckst, aber unbestechlich gegenüber Holtrops manipulativen Einflussnahmen.
Johann Holtrop ist auf dem Gipfel seiner Karriere beim Medienkonzern Assperg angelangt, als die Aufführung beginnt. Er kann nicht ahnen, dass jeder weitere Schritt ihn dem Abgrund näherbringt. Die Putzkolonne, mit der die Aufführung startet, hat nur mittelbar mit seinem Abstieg zu tun, mag aber symbolisch dafür stehen. Anders als Thomas Middelhoff wird Holtrop den Abstieg nicht überleben, wobei auch Holtrops Freitod einen Beigeschmack des Scheiterns in sich trägt. „Verachtung als Prinzip der Führung“ kann nicht funktionieren. Der Schreiber dieser Zeilen hat ein paar Figuren mit diesem Prinzip im Topmanagement seines früheren Unternehmens kennengelernt. Die meisten von ihnen sind nicht lange im Unternehmen verblieben. Alle aber sind langfristig gescheitert.