Übrigens …

The Making of Berlin im PACT Zollverein, Essen

Eine Dokufiction wird zum Vexierspiel

Was für eine irre Geschichte! Im Juni 2016 trafen die Theatermacher des Antwerpener Künstlerkollektivs BERLIN anlässlich eines Gastspiels in der Stadt, nach der sie sich benannt hatten, einen älteren Herrn im Foyer, der ihnen eine spannende, ja: fast unglaubliche Lebensgeschichte erzählte. Spannend, ja: fast unglaublich ist bekanntlich auch die Geschichte der Stadt Berlin, vor allem die des 20. Jahrhunderts. So passten Friedrich Mohrs Lebensgeschichte und die Historie der Stadt perfekt in die Reihe „Holocene“, innerhalb derer sich BERLIN seit dem Jahre 2003 mit Städteporträts beschäftigt: Geschichten aus einer Stadt, die mit der Geschichte der Stadt in irgendeiner Form verknüpft sind und in denen die belgische Gruppe in einer für sie mittlerweile typischen Form Realität und Fiktion miteinander verknüpft. Jerusalem, Iqaluit in Alaska, Bonanza in den USA, Moskau und das ukrainische Zvisdal waren schon an der Reihe gewesen. Nun also folgte Berlin, auch dank Friedrich Mohr, dem geheimnisvollen Theaterbesucher.

Der war in den letzten Kriegsjahren Orchesterwart bei den Berliner Philharmonikern gewesen. Orchesterwarte – das sind die Menschen, die für den Auf- und Umbau von Dirigenten- und Notenpulten, den Sitzgelegenheiten für die Musiker sowie für den Transport der Notenständer, Musikinstrumente etc. verantwortlich sind. Inwieweit Friedrich Mohr später auch Musiker war oder unmittelbar mit einer Aufführung zu tun hatte, bleibt ein wenig im clair obscur – einerlei, man denkt nicht drüber nach. Denn Mohrs Geschichte verknüpft sich auf spannende Weise mit der Geschichte Berlins in den letzten Kriegstagen. Als die russische Armee bereits vor der Stadt stand und Bombenhagel jede künstlerische Aktivität unmöglich machte, entschieden einige Musiker, darunter Mohr, noch einmal Siegfrieds Tod aus Wagners Götterdämmerung aufzuführen. Das Gebäude der Philharmonie oder andere Aufführungsorte waren nicht mehr nutzbar. Man entschied sich also, in sechs verschiedenen Bunkern zu spielen, die über die ganze Stadt verteilt waren. Eine Liveübertragung im Rundfunk sollte die einzelnen Orchesterteile zusammenführen.

Jetzt, im Jahre 2016, ist es Friedrich Mohrs Lebenstraum, eine solche Aufführung in den Bunkern Berlins zu wiederholen respektive zu realisieren. Bei dem Team von BERLIN stößt er auf offene Ohren. Es finden sich Produktionspartner, Sponsoren und ein belgischer Radiosender, der das Bunkerkonzert übertragen wird. Mohr liefert mehr und mehr Details: Er zeigt dem Team die – großenteils inzwischen zerstörten – Originalschauplätze, die Orte, an denen der Dirigent gewohnt hat, das Haus des Paukisten, der von zu Hause aus spielen wollte. Er berichtet von erschütternden Erlebnissen aus seinem privaten Umfeld, die in Zusammenhang mit dem damals geplanten Konzert stehen. Wir wollen die Details nicht verraten, um den Leserinnen und Lesern, die die Aufführung bei den späteren Gastspielen, beispielsweise beim Internationalen Figurentheaterfestival in Erlangen im Mai oder später bei den koproduzierenden Berliner Festspielen, nicht die Spannung zu nehmen. Aber irgendwann in der Mitte des knapp zweistündigen Abends erreicht die Geschichte einen Kipp-Punkt. Und der hat seinen Ursprung nicht im Jahre 1945, sondern schon 1615. Und er wirft Fragen auf. Fragen, die nicht nur Friedrich Mohrs Geschichte in Zweifel ziehen, sondern auch das, was BERLIN uns bislang erzählt hat.

Die Gruppe hat bislang keine lineare Erzählung von Friedrich Mohrs Geschichte abgeliefert – und sie wird dies auch weiterhin nicht tun. BERLIN erzählt vom „Making of“ ihres Projekts. Merkwürdigerweise (aber das Merkwürdige daran fällt uns erst am Ende auf) hat man von Anfang an beschlossen, das „Making Of“ aufzuzeichnen – von der allerersten Diskussion an, vom allerersten Telefonat in diesem Zusammenhang. Im Detail werden die Aktionen von BERLIN im Zusammenhang mit dem Projekt mitgeschnitten und nun in Auszügen gezeigt – die internen Diskussionen, die Verhandlungen mit dem das Konzert übertragenden Radio Klara etc. Auch nach den aufgetretenen Irritationen arbeitet BERLIN weiter. Und zeichnet auf, wie man weiterarbeitet – zeigt nun die Diskussionen über Lüge und Wahrheit, über die Verantwortung für das Projekt, die involvierten Sponsoren und Projektpartner und den unverzichtbaren Partner Radio Klara. Als Theaterbesucher im PACT Zollverein sieht man im Grunde nichts als einen Film – die wenigen Live-Szenen nehmen einen verschwindend geringen Raum ein. Aber auch dieser Film hat bereits rein optisch verschiedene Ebenen: Man blickt durch transparente Vorhänge, sieht ineinanderfließende Filmbilder ebenso wie die Live-Musiker, hört die Live-Musik ebenso wie vorproduzierte Elemente. Die Story fasziniert. Doch mehr und mehr wird sie zum Vexierspiel. Man sitzt da und glaubt, es sei nur die Story von Friedrich Mohr, die in den Bann schlägt. Die man zu hinterfragen beginnt: Was ist Wahrheit, was ist Traum, was ist Lüge?

Und dann beschließen zehn Minuten Götterdämmerung den Abend, der klar und verständlich begonnen hatte und der voller Rätsel endet. Noch während des Schlussapplauses begreift man: Die Rätsel liegen nicht nur in der Geschichte Friedrich Mohrs. Was zum Teufel ist wahr an diesem Making Of? Was ist Doku, was ist Fiktion? Was an den internen Diskussionen, was an den Verhandlungen, was an den Gesprächen mit Mohr ist wahr, was ist inszeniert? „Ehrlich ist nur eine Stufe vor langweilig“, wird Mohr einmal sagen. Der Satz könnte, als Frage formuliert, ein Leitmotiv von Yves Degryses Inszenierung sein. Man denkt weiter: Ist nicht ohnehin jeder Dokumentarfilm ein Stück weit inszeniert? Dieser ist es ganz eindeutig. Die filmischen Mittel, die Kamerafahrten und die Musik rufen eine Spannung hervor, die einer sachlichen Dokumentation im Grunde entgegensteht, die aber die Rezeption für den Zuschauer erleichtert. Der Abend ist so transparent und doch so vieldeutig wie die Ebenen der Sichtachsen, die durch die Vorhänge geschaffen werden. Er ist so vieldeutig wie sein Titel: Die Gruppe BERLIN macht ein Porträt einer Stadt namens Berlin, macht einen Film namens Berlin und zeigt, wie Berlin gemacht wurde, wie es von 1945 bis heute neu entstand auf den Trümmern der Vergangenheit.

Lässt auch Friedrich Mohr etwas neu entstehen auf den Trümmern seiner Vergangenheit? Wer zum Teufel ist dieser Friedrich Mohr? - Friedrich Mohr war in den letzten Kriegsjahren Orchesterwart bei den Berliner Philharmonikern. Das ist die einzige Wahrheit, die am Ende dieses filmischen Theaterabends festzustehen scheint. Nach Jahrzehnten trifft sich Friedrich Mohr auf Vermittlung von BERLIN mit seinem alten Kollegen und Freund Herbert. „Wir haben alle zwei Leben“, sagt Herbert. Vielleicht haben wir auch alle zwei Wahrheiten. Dieser Theaterabend hat vermutlich sogar mehr. Was für eine irre Geschichte!