Unendliche Traurigkeit
Sie reden ständig. Sie glauben, dass Schweigen peinlich wäre und sie bloßstellen könnte. Doch es entwickelt sich keine Konversation, denn aus ihren Mündern kommen nur hohle Phrasen. Die dreschen sie, um sich zu wappnen gegen Angriffe, die ihre Lebenswirklichkeit hinterfragen und gar zum Einstürzen bringen könnten. Ihre Panzer sind dicht und undurchdringbar.
Ödön von Horváth entlarvt in seinem „Volksstück“ Geschichten aus dem Wiener Wald eine kleinbürgerliche Welt, die in ihrer Spießigkeit und Borniertheit zu einer Gefahrenquelle werden kann und warnt vor dem heraufziehenden Faschismus. Doch darum geht es Regisseur Remsi Al Khalisi nur am Rande. In den Fokus stellt er Marianne, die einzige der Figuren, die aufbegehrt. Sie will nicht Hilfe ihres Vaters in dessen Spielwarenladen bleiben, ihm den Haushalt führen und seine Sockenhalter suchen. Sie will einen Beruf erlernen, statt sich mit dem Metzger von nebenan verheiraten zu lassen. „Mein Körper gehört mir“ ruft sie in großer Verzweiflung. Denn im Gegensatz zu allen anderen lässt sie echte Emotionen zu. Clara Kronecks Marianne ist intensiv in ihren Visionen, im Glauben, besser und anders leben zu können. Doch leider projiziert sie ihre Liebe auf den falschen Mann. Denn Alfred ist nicht soviel anders als der ihr zugedachte Metzger: Auch, wenn er ein Leben am Rande der Legalität führt, hat er es sich im Kleinbürgerlichen bequem gemacht. Julius Janosch Schulte gibt ihn nonchalant, wird aber rabiat, wenn er seine Hängematte verlassen soll. Und so ist Mariannes Abstieg besiegelt. Statt ein anderes, freies Leben beginnen zu können, wird sie zur Nackttänzerin im Varieté, zur Diebin und kommt ins Gefängnis. Nach ihrer Haft gibt es zwar eine Versöhnung mit ihrem Vater. Doch die nützt ihr nichts. Sie wird zurückgestoßen in die Welt, der sie entkommen wollte - und das für immer und ewig. „Du entkommst mir nicht“, hatte Metzger Oskar schon zu Beginn gedroht. Und diese Prophezeihung wird bittere Wirklichkeit!
Auf Signe Raunkjaer Holms drehbarem Bühnenbild ist auf der einen Seite die scheinbar so saubere Welt mit einer Ladenzeile zu sehen. Die Rückseite mit vielen kleinen Zimmer entfaltet genügend Raum für die vielen kleinen und großen Tragödien, die sich im Verborgenen abspielen. In dieser Umgebung entfaltet Al Khalisi das wirklich genial Tragische seiner Inszenierung: Er zeigt alle Figuren unendlich fest eingeschlossen in Kerkern, aus denen es kein Entrinnen gibt. Und deren Mauern haben sie teilweise auch noch selbst errichtet.
Da sind Vater und Großmutter Alfreds, die sich wahrscheinlich zur Wahrung des Scheins schuldig gemacht haben des Kindsmords an ihrem Enkel und Urenkel. Ilja Harjes gibt den Vater eher nachsichtig. Doch ist auch bei ihm ob des Todes seines Enkels Erleichterung spürbar. Regine Andratschke würzt die Großmutter mit einem Schuss Exzentrik. Ansgar Sauren als Erich markiert den drohenden Faschismus. Artur Spannagel als Metzgersgeselle ist stumpf und geradeaus. Er lebt seine Sado-Maso-Neigungen im wahrsten Sinne des Wortes durchschlagend aus. Der Rittmeister Christian Bo Salle geriert sich gern als etwas Besseres, ist aber Spannagels willfähriges Opfer. Frank Peter Dettmann ist als Mariannes Vater genauso im Tunnel seiner kleinbürgerlichen Existenz gefangen wie alle anderen.
Pascal Riedel ist der Metzger Oskar. Obwohl man ihm den Schweineschlächter nicht recht abnehmen mag, überzeugt er mit leeren Worten, die eigene Ängste verschleiern sollen. Herausragend ist Katharina Brenner als Tabakladenbetreiberin Valerie, die ab und an junge Männer aushält, um ihrem eintönigen Leben Würze zu geben. Aber auch sie ist stets darauf bedacht, die äußere Schale rein und weiß zu halten. Al Khalisi und sein Team beeindrucken dadurch, alle Akteure gefesselt an unsichtbare Ketten zu präsentieren. Am Ende bleiben Beklemmung, Leere und Traurigkeit.
Horváths Stücke waren in den letzten Jahren immer eher Produktionen, die keine Publikumsrenner waren. Auch dieses Mal bleiben bei der Premiere viele Plätze leer. Doch Al Khalisis Adaption der Geschichten aus dem Wald ist so bezwingend, dass es vielen Menschen zu wünschen ist, erstmal in Sprachlosigkeit zu verharren. Und dann sprudeln die Gedanken. Das ist Theater!