Hingetupft - und voller Dringlichkeit
Am Düsseldorfer Schauspielhaus, am Kleinen Theater Bad Godesberg, an der Dortmunder Oper, an den Vereinigten Bühnen Krefeld Mönchengladbach, am Rottstr5 Theater Bochum - überall in NRW spielen sie Cabaret. In Dortmund und Bad Godesberg wurde es gerade abgespielt, aber auch außerhalb von NRW läuft das Musical (oder sagen wir besser: die Story) rauf und runter: in Stuttgart, am Hessischen Staatstheater Wiesbaden, an der Neuen Bühne Senftenberg, wo auch immer. Die große Sause im liberalen Berlin kurz vor der Machtübernahme der Nazis passt perfekt in die Zeit: Man feiert noch im Angesicht der drohenden Katastrophen, die rechten Parteien gewinnen überall in Europa an Gewicht, na ja, und das Publikum will einerseits anspruchsvolle Stoffe, möchte aber andererseits nach den langen Entbehrungen während der Pandemie im Theater lieber unterhalten als mit weiteren düsteren Gedanken gequält werden. Cabaret scheint da ein guter Kompromiss zu sein. In Krefeld setzt man auf Ohrwürmer, Liebesgeschichten und Show; André Kaczmarczyk inszeniert in Düsseldorf mit überbordender Phantasie, bis ins Detail durchdachten Bildern sowie herausragenden Sängerinnen und Sängern. Vor der Pause dominiert in Düsseldorf das Unterhaltungs-Genre, nach der Pause kann man sich den beklemmenden politischen Bildern kaum noch entziehen, Und immer ist große Show (siehe hier).
Dass man in der Bochumer Rottstraße angesichts des äußerst beengten Raums und des extrem begrenzten Budgets ganz anders arbeiten würde, war zu erwarten. Und doch ist das Resultat verblüffend. Regisseurin Maria Trautmann wird in 50 Minuten mit dem umfangreichen Stoff fertig - und erzählt alles, was wichtig ist. Sie benötigt nur zwei Schauspieler und einen Musiker, der, da im Prinzip unterbeschäftigt (!), ab und zu mal eine kleine Sprechrolle übernimmt. Linus Scherz gibt den Conférencier und Erzähler, Lea Kallmeier springt umstandslos von der Partie des Möchtegern-Stars Sally Bowles über die Figur der Vermieterin Fräulein Schröder in die Rolle des Bernhard Landauer und schafft ausgerechnet in der Männer-Rolle einen der Höhepunkte der kurzen Aufführung. Genau wie Kaczmarczyk in Düsseldorf begrüßt Linus Scherz „Ladies and Gentlemen and all the genders in between“ und setzt mit seinem Outfit auf eine queere Ästhetik, wenn auch im Vergleich zur Düsseldorfer Aufführung deutlich zurückgenommen. Wichtiger ist von Beginn an der politische Hintergrund des Stückes. Nicht die Willkommens-Hymne leitet den Abend ein, sondern, vom Band gespielt vor dem offiziellen Beginn der Aufführung, Claire Waldoffs „Es gibt nur ein Berlin“: „Nazi oder Kommunist, keiner weiß mehr, was er ist…“ Den Figuren in Cabaret scheint das ja auch lange egal zu sein.
Nicht Maria Trautmanns Aufführung. Die Regie kommt schnell zum Punkt. Trautmann orientiert sich stärker an Christopher Isherwoods Roman Goodbye to Berlin als an dem später entstandenen, die Schwerpunkte des Romans verändernden Musical von Masteroff, Kander und Ebb. Die herausragenden Sängerinnen und Sänger hat die Regisseurin nicht zur Verfügung, gute Schauspieler schon: Mimisch und choreographisch vermögen Kallmeier und Scherz zu überzeugen; insbesondere Scherz spielt mit viel Ironie. Zart hingetupft nur sind die Szenen, zart hingetupft die Melodien, die Benedikt ter Braak häufig nur kurz instrumental anspielt. Selten werden die Songs in voller Länge gesungen, oft werden sie gesprochen, in einem Falle sogar gerappt.
„Ich bin eine Kamera mit offenem Verschluss“, wie es in den „Berlin Stories“ heißt, „a camera with its shutter open, quite passive, recording, not thinking“? - Nein, Trautmanns kurze Szenen-Collage ist penibel durchdacht und hat ein perfektes Timing. Fliegende Szenenwechsel ohne große Positionsveränderungen, ohne Kostümwechsel verändern sekundenschnell die Atmosphäre. Während der Soundtrack noch das ausgelassene Berlin feiert, spricht Lea Kallmeier die so ernüchterte wie ernüchternde, so lakonische wie resignierte Warnung des jüdischen Kaufmanns Bernhard Landauer: „We are lost...“ Nazibanden schlagen die Fenster der Juden ein. Alles ist in bester Ordnung. - Trautmanns Inszenierung bekommt da eine Intensität und Dringlichkeit, dass es mucksmäuschenstill im Publikum wird.
Früh wird das berühmte Nazi-Lied angespielt, das im Musical der HJ gehört. Ganz leise, nur instrumental lässt ten Braak die Melodie erklingen. Bis es plötzlich dröhnt: „Der morgige Tag ist mein!“ - Poesie, Politik und Nachdenklichkeit gehen Hand in Hand in Trautmanns Inszenierung. „Man kann nicht anders als lächeln, wenn die Sonne scheint“, sagt Kallmeier. „Die Sonne scheint, und Hitler herrscht über Berlin.“ Linus Scherz, dem Conferencier, ist alle Fröhlichkeit ausgetrieben. Life is a Cabaret, old chum...