Der dressierte Mensch
„Die Hölle ist kalt“, sagt Woyzeck einmal. Der Doctor findet nicht nur diese Äußerung „grotesk“. Grotesk ist in der Büchner-Inszenierung am Schauspielhaus Bochum so manche Szene, aber „wie man zu so Gedanken kommt“, lässt sich aus der Interpretation des Regisseurs Johan Simons gut herleiten. Sein Woyzeck spielt in einer Zirkusarena. Sechs Schauspielerinnen und Schauspieler treten auf, aber scheinbar haben allenfalls drei wirklich viel zu tun: Steven Scharf als Woyzeck, Anna Drexler als Marie und - mit ein bisschen weniger Text, aber ebenfalls viel schauspielerischer Präsenz - Guy Clemens als Tambourmajor. Wenn Woyzeck und Marie herumscharwenzeln, wenn sie spielen, streiten und oft genug aneinander vorbei agieren, sitzen die übrigen auf den Rängen um die Manege herum und schauen zu: stumm, im besten Falle ratlos, aber eigentlich uninteressiert und gefühlskalt. Sie beobachten, wie Woyzeck sich durchs Leben müht, von einer Marie betrogen, die ihn liebt, aber der der Vater ihres Kindes immer fremder wird, vom Hauptmann und vom Doctor dressiert und missbraucht zu fragwürdigen Experimenten, die längst eine, wie es der Medizinier bei Büchner freudig verkündet, „aberratio mentalis partialis“ ausgelöst haben. Auf Deutsch: Woyzeck ist geisteskrank. Alle glotzen, aber interessieren tut’s so recht niemanden. Woyzecks aberratio dient ihnen maximal als durchschnittlich attraktives Unterhaltungsprogramm.
Zu Beginn quält Steven Scharf sich selbst und das Publikum mit einem langen Solo. Er singt das Lied des Andres aus Büchners Drama: „saßen einst zwei Hasen“. Setzt wieder und wieder an, immer zu den gleichen zwei Versen. Und er stammelt. Er stößt Laute aus, findet aber keine Sprache. Lange, reichlich lange an diesem kurzen, nur gut neunzigminütigen Abend geht das so. Es ist als müsse Woyzeck sich mühsam hineinarbeiten in die Kunst des Sprechens, in die Kunst des Denkens. Doch irgendwo verschüttet liegen Erkenntnisse, die, wenn sie an die Oberfläche drängen, Woyzeck beinahe philosophisch wirken lassen. Vermutlich ist die philosophische Formulierung Zufall, ist sie der Mühe geschuldet, die das Sprechen verursacht, aber man spürt Steven Scharfs Spiel gelegentlich an, dass in diesem Manne mehr stecken könnte als ein schizophrener Soldat und Friseur. Woyzeck durchschaut das Schicksal von seinesgleichen; er kennt das Los der kleinen Leute: „Ich glaub‘, wenn wir in den Himmel kämen, müssten wir donnern helfen.“ Und dann fehlt ihm wieder die Sprache. Fehlt ihm die Fähigkeit, seine Gefühle auszudrücken. Frustrationen zu verarbeiten, sich auszusprechen. Zwar donnert es nicht, aber sein Messer blitzt.
Wir sehen es nicht, aber Scharf brennt uns das Bild ins Hirn. Er kann das, denn Scharf ist ein Schauspieler. Die sechs Akteure tun, was ihr Beruf ist: Sie spielen. Marie liegt am Ende in der Arena, und Anna Drexler spielt, als läge sie im Wasser - so wie Woyzecks Messer. Sie spricht mit ihrem Partner, mit Woyzeck, vielleicht auch mit Scharf, der den Woyzeck spielt. Gleich zu Beginn hatten beide - noch überraschend fröhlich - in der Arena das Kuriositätenkabinett ausgestellt, das Büchner in seinem Drama von den Menschen, die zu Tieren werden, anspricht. Sie hatten miteinander gespielt; man wusste nicht recht, ob für ein Arena-Publikum oder nur für sich, ganz privatissime. Sie hatten die menschlichen Kreaturen nachgeahmt, die Büchner Kuriositätenkabinett bevölkern: das „astronomische Pferd“ zum Beispiel. Später, wenn Marie sich mit dem Tambourmajor vergnügt, wenn Drexler und Clement in Stéphane Laimés Arena tanzen, dann tanzen auch sie wie zwei Pferde, die auf der Koppel herumtollen. Fröhlich wirkt das - und irgendwie unschuldig, obwohl Guy Clement zum Vergnügen des Publikums die Muskeln seines nackten Oberkörpers spielen lässt. Doch das Volk lacht nicht vor Vergnügen beim Anblick eines erotischen Muskelprotzes, sondern es lacht über einen Witz. Im Woyzeck gibt es keine Heldengestalten. Grund zur Eifersucht mag Woyzeck dennoch haben. Oder etwa nicht?
Marie weint. „Bin ich kein Mensch?“, versucht sie ihr Recht auf ein wenig Leben, auf ein bisschen Vergnügen zu verteidigen. Ihre Tränen scheinen echt: Mag sie auch Unverständnis darüber äußern, dass ihr Franz sich nicht die Bohne um das gemeinsame Kind kümmert (das entsprechend verkümmert, nämlich nur ein erbärmliches Drahtgestell ist), so lässt sie doch gerade kurz vor der Eskalation noch einmal eine Art Zusammengehörigkeitsgefühl erkennen. Doch wieder steht sie einem sprachlosen, zu einer rationalen Auseinandersetzung nicht fähigen Woyzeck gegenüber. Marie weint nicht nur, weil sie Woyzecks Eifersucht spürt, sondern weil sie wieder einmal mit seiner Geisteskrankheit konfrontiert ist: Welch edler Geist ist hier zerstört! - Marie hat Mitleid. Alle anderen gaffen nur, schauen ohne Anteilnahme einem Geisteskranken zu. „Sehen Sie die Kreatur, wie Gott sie gemacht hat.“
Das Zirkuszelt ist derweil längst ramponiert. Gleich nach seinem länglich-allzulänglichen Monolog zu Beginn hat Steven Scharf mit seinen unbeholfenen Bewegungen den Vorhang heruntergerissen, die Stützpfeiler eingerissen. Dem Mann, der spielt wie ein trauriger Clown, ist auch sein Illusionstheater abhandengekommen, mutwillig zerstört von ihm selbst. Reste des Vorhangs hängen nun an der Rückwand wie Banner an der Außenwand einer düsteren, abweisenden Burg. Nicht nur Woyzeck, sondern auch sein Lebensraum ist versehrt. Alle anderen Figuren sind es auch: der Hauptmann (Jordy Vogelzang), dem „ganz Angst (wird) um die Welt“, wenn er an die Ewigkeit denkt, das Baby, das nur noch ein durchsichtiges Drahtgerippe ist, der Doctor, dem nur drei oder vier Sätze gestattet sind, der aber bei Martin Horn ein charismatisch introvertierter, wenig vertrauenerweckender Typ ist. Versehrt ist auch die Sprache. Und Marie, die auszubrechen versucht aus dieser kalten Hölle, wird getötet. Der Mensch ist degeneriert zum Tier. Schemenhaft flimmert ein Schwarz-Weiß-Video über die Bühnenrückwand. Es zeigt Lipizzaner-Pferde im Zirkus. Und dressierte Affen. Sowie Menschen, die zuschauen, interessiert, aber nicht allzu sehr, wie bei einem durchschnittlich attraktiven Unterhaltungsprogramm.