Ohne Kraft, aber nicht ohne Träume
Das Gut, das Onkel Wanja in Rikki Henrys Tschechow-Inszenierung verwaltet, ist kein landwirtschaftliches Anwesen am Ende des 19. Jahrhunderts, sondern ein etwas verstaubtes mittelständisches Unternehmen der… sagen wir: späten 1980er Jahre. Dauernd rattert ein alter Drucker; Unmengen an Papierstapeln dokumentieren eine gewisse Überforderung. Am ollen Retro-Computerbildschirm sitzt vor allem Maria Wassiljewna (Antje Prust) - wer weiß, ob die anderen überhaupt einen Computer bedienen können. Den (heute längst überholten) arbeitsmedizinischen Erkenntnissen der 1980er sowie den Neuerungen des Führungsstils steht man immerhin aufgeschlossen gegenüber: Ein Sitzball steht ungenutzt in der Ecke, und ein Fahrrad-Ergometer wartet vergeblich auf seinen Einsatz. Onkel Wanja fühlt sich furchtbar alt; in solchem Zustand denkt man ja schon mal über körperliche Ertüchtigung nach und deckt sich mit allen möglichen Foltergeräten ein, die man letztlich aber doch nicht nutzt. Man kennt das von zu Hause… - Onkel Wanja ist übrigens erst 51. Neun lange Jahre glaubt er noch vor sich zu haben bis zu seinem Tod. Ein bisschen hypochondrisch ist er schon…
Ein deutlich schlimmerer Hypochonder ist der Mann, dessen Konterfei auf dem Titelblatt des alten Time Magazine prangt, das als Poster an der Bürowand hängt: „Person of the Year“ Alexander Wladimirowitsch Serebrjakow. Es muss also doch 1999 oder später sein, denn vorher kürte das Time Magazine keine Persons, sondern nur Men oder - in Einzelfällen - Women of the Year. Wie dem auch sei: Der ziemlich miesepetrige Kunstprofessor wohnt auch im Haus und ist Wanjas Schwager. Seiner verstorbenen Gattin (also Wanjas Schwester) gehörte das von Wanja verwaltete Gut. Wenn Linus Ebner schlecht gelaunt in die wenig effizient anmutende Arbeits-Idylle der Dortmunder Bühnen-Landschaft einbricht, ahnt man schon, dass der wichtigtuerische Professor eine ziemliche Luftnummer ist. Selbst Wanja wird das im Verlauf der kommenden zwei Stunden begreifen und wenigstens einmal aus seiner allzu großen Lethargie aufwachen. Doch im Leben, im Leben geht mancher Schuss daneben.
Astrow, der unvermeidliche Arzt, der unter wechselnden Namen durch jedes Tschechow-Stück geistert, ist bei Alexander Darkow weniger zynisch als in vielen anderen Inszenierungen, dafür aber ziemlich stieselig. Wach wird er, wenn es um sein Lebensthema geht: Er palavert über die Abholzung von Wäldern und die dadurch drohende Beschleunigung des Klimawandels, die auch den Menschen gefährlich werden wird. Die ihn heimlich liebende Jelena, Serebrjakows Frau, plappert ihm das gelegentlich nach. Na klar, denkt man: Wir schreiben die späten 1980er, und schon damals hätten wir handeln müssen, nicht erst heute, da die Krieg führende Politikerkaste aus dem Land von Tschechow, Astrow und Serebrjakow den Westen ultimativ zum Umstieg auf erneuerbare Energien zwingt. Aber den britischen Regisseur Rikki Henry interessiert Astrows Umwelt-Dystopie nur in Maßen - sagen wir: gleichgewichtig mit all den anderen Tschechow-Themen wie der Langeweile, der Antriebslosigkeit, der daraus resultierenden Perspektivlosigkeit, dem Unglücklichsein und der Liebe, die sich garantiert immer auf die falschen Partner konzentriert. Henry zeichnet das Porträt einer degenerierenden Mittelstandsgesellschaft und ihres armselig gewordenen Lebens, aus dessen Kreislauf auszubrechen niemand die Kraft findet.
Das klingt nach typisch deutscher Tschechow-Rezeption: Melancholie und Mittelstand. Aber Irrtum: Henry mischt die Traurigkeit mit den Elementen der Komödie. Alle Charaktere - vielleicht mit Ausnahme des Serebrjakow - werden sympathisch gezeichnet und zwar mit milder Ironie betrachtet, aber niemals dem Spott preisgegeben. Empathischen Menschen bleibt allerdings oft das Lachen im Halse stecken. Denn die Artgenossen, denen sie zuschauen, wirken kraft- und willenlos, sind aber nicht ohne Träume. Fast alle Figuren möchten ausbrechen aus der Enge der Provinz und der Langeweile ihres Lebens. Wanja, bei dem relativ jung wirkenden Ekkehard Freye ein grundehrlicher, pflichtbewusster, aber auch resignierter Typ, denkt zurück statt voraus, Jelena, pragmatisch ihre Träume verbergend, scheint sich arrangiert zu haben, bis dass ihr ein leidenschaftlicher Kuss mit Astrow unterläuft, Astrow ertränkt seine Frustration im Alkohol und findet keine menschliche Nähe, die ihn vielleicht retten könnte - nur Serebrjakow wagt einen Ausbruchsversuch, der allerdings verantwortungslos gegenüber seiner Tochter sein könnte. Er will das Gut verkaufen - aber warum? Um sich kleiner zu setzen, sich in noch mehr Enge zurückzuziehen. Gelegentlich versuchen sie zu feiern, diese Figuren - aber selbst die Musikauswahl dokumentiert ihre Rat- und Ziellosigkeit: „What’s going on?“
„25 years and my life is still / Trying to get up that great big hill of hope / For a destination“: Gelegentlich vermisst man auch in Henrys Inszenierung einen klaren Fokus, die Konzentration auf bestimmte Botschaften. Aber die Aufführung ist durchgängig unterhaltsam. Ekkehard Freye als leicht hypochondrischer, im Grunde aufopferungsbereiter, aber kraftloser Wanja überzeugt, Sarah Quarshie gelingt es, die Figur ihrer Jelena ins Zentrum zu rücken, obwohl diese stets bemüht ist, keine Ecken und Kanten zu zeigen. Nika Miskovic gibt eine unbeholfen verliebte, backfischhafte und wunderbar anrührende Sonja, Linus Ebner in der Rolle des alternden, sich selbst und seine Umwelt verachtenden Serebrjakow ist ein bedauernswertes Ekelpaket. Und in einer winzigen Nebenrolle überzeugt Adi Hrustemovic: ein stotternder, unsicherer junger Mann, weit entfernt von Tschechows verarmtem Gutsbesitzer Telegin, Am Ende aber bleibt Tschechow wie Tschechow eben ist: Nichts wird sich verändern; ewig dreht sich die Spirale der Langeweile im Leben seiner Geschöpfe. Niemand achtet wirklich auf den anderen: Sonja verliert den angebeteten Astrow endgültig, aber Wanja merkt nix, sondern stöhnt ihr vor, wie schwer ihm selbst ums Herz ist.
Im Diesseits fehlt allen die Kraft zum Handeln. „Wir müssen leben“, sagt Sonja. Und entwirft die Utopie von einem glücklichen, heiteren Leben nach dem Tode. Selten so gelacht.