Zwei Menschen wohnen ach in ihrer Brust
Auf der großen schwarzen Bühne ragt eine erhöhte Spielfläche schräg ins Bild, ganz hinten kauern drei meterhohe Kolosse, vielleicht Monsterköpfe? Davor auf ebener Erde hocken eine Menge seltsamer Typen in triste graugrüne Klamotten gehüllt, einige mit bizarr aufgetürmten Frisuren, alle fahl-weiß geschminkt. Links von ihnen um einen Flügel herum eine Liveband mit dem Musiker Tobias Vethake am E-Cello, der die Originalmusik von Paul Dessau bearbeitete und mit Klangflächen und Sound-Effekten ergänzte.
Ein schrilles Akkordband durchzieht den Raum, eine der Figuren kreucht auf die Spielfläche, gebückt und mit schrägen Verrenkungen stellt sie sich vor: „Ich bin Was.. Was… Wasserverkäufer, “ stottert er, während die riesigen Kopfmasken im Hintergrund sich uns zuwenden und als Götter zu erkennen geben. Wir sind im Vorspiel zu Brechts Der gute Mensch von Sezuan und erfahren, dass die Götter angesichts des menschlichen Elends die Erde besuchen, um ein Experiment zu wagen. Ihr Motto: „Die Welt kann bleiben, wie sie ist, wenn genügend gute Menschen gefunden werden, die ein menschenwürdiges Dasein leben können.“ Wang, der Wasserverkäufer (erschreckend grotesk: Sebastian Tessenow), soll Herberge für sie finden, d.h.: einen guten Menschen, der die Götter aufnimmt. Er selbst scheidet aus, da die Götter entdecken, dass sein Wasserbecher einen doppelten Boden hat. (Da es um ein „Lehrstück“ im Sinne Brecht’schen Epischen Theaters geht, darf sich hier ein Erinnern an Philemon und Baucis‘ Zusammentreffen mit Zeus und Hermes einschleichen oder an Abrahams Vertrag mit dem Engel vor der Bestrafung der Städte Sodom und Gomorra, vielleicht gar an die Herbergssuche von Maria und Josef.) Wie bei den literarischen Vorgängern, findet sich auch bei Brecht der eine gute Mensch, nämlich die Prostituierte Shen Te. Wie der Titel sagt, spielt das Stück zwar in der chinesischen Provinz Sezuan, einem Ort, der in Düsseldorf ausdrücklich als „fiktive Stadt, die beispielhaft für alle Orte, an denen Menschen ausgebeutet werden“ steht - ganz im Sinne des Autors, der das Ganze in einer Vorbemerkung ausdrücklich als Parabel verstanden wissen will.
Im Fortgang der Handlung erhält Shen Te auf ihr Klagen hin von den Göttern ein „kleines Kapital“, das die Geber ausdrücklich als Bezahlung fürs Nachtquartier verstanden wissen wollen. Dafür erwirbt sie einen Tabakladen (eine bemerkenswerte Parallele zum Roman Mehlreisende Frieda Geier der Brecht-Mitarbeiterin Marieluise Fleißer). Zu bescheidenem Wohlstand gekommen, lässt Shen Te sich von ihren Mitmenschen ausnutzen, bis sie selbst wieder Schulden anhäuft. Wunderbar das Bild der auf den Tabaksäcken hockenden Schmarotzer, die ihr das Wort „Vetter“ zuflüstern, bis sie tatsächlich in die Rolle des fiktiven Vetters Shui Ta schlüpft und damit sich ein kapitalistisches Alter Ego verschafft. Eine grandiose Schauspielerische Leistung von Minna Wündrich in dieser Doppelrolle: hilfsbereit und verständnisvoll als Shen Te, hart und fordernd bis zur Rücksichtslosigkeit als Shui Ta.
Als sie jedoch dem arbeitslosen Flieger Yang Sun begegnet, ihn vor dem Selbstmord rettet – der Strick baumelt schon vom Bühnenhimmel – und sich in ihn verliebt, gerät alles einigermaßen durcheinander: obwohl sie ahnt, dass er auf ihr Geld aus ist, will sie ihn heiraten. Hier vereinfacht die Regisseurin Bernadette Sonnenbichler das Geschehen, lässt die Protagonistin an die Rampe treten und uns mitteilen, dass sie mit dem gehen will, den sie liebe. Mit der Frage: „Wie finden Sie mich, meine Damen und Herren?“ werden wir dann in die Pause entlassen.
Nach der Pause wird’s ziemlich laut, aus der Heirat wird nichts. Shui Ta sitzt inzwischen nicht mehr auf Tabak-, sondern auf Koks-Säcken und der verkommene Yang Sun (bis zur Übertreibung grotesk gegeben von Jonas Friedrich Leonardi) erbettelt sich eine Prise bei ihm. (Eine Veränderung des ursprünglichen Textes für die Aufführungen in den USA.)
Während das Publikum „eingeweiht“ ist - , es weiß, dass der dicke Leib des Shui Ta nicht angefressen ist, sondern den Fortgang der Schwangerschaft der Shen Te anzeigt – beschuldigen die Bürger Sezuans den vermeintlichen Vetter des Mordes an seiner verschwundenen Cousine und stellen ihn vors Gericht. Als Richter schweben die drei Götter mit opulenten Barockperücken aus dem Bühnenhimmel herab. Shen Te gibt sich zu erkennen: „Für eure großen Pläne war ich Mensch zu klein“, resümiert sie. Mit der Frage: „Was könnte die Lösung sein, ein anderer Mensch, eine andere Welt, vielleicht nur andere Götter“ - und leise nachgeschoben - „oder keine Götter?“, werden wir ganz im Sinne eines offenen Endes beim epischen Theater, entlassen. Es bleibt Sache des Zuschauers, nicht der Brecht’schen Götter, eine Lösung zu finden.
Brecht will mit seinem analytischen Theater ganz bewusst zum Nachdenken, zum Hinterfragen anregen. Selbst die Darstellenden sollen „von außen an die Rolle rangehen“, um das Spiel zu desillusionieren, einen „Verfremdungseffekt“ zu erreichen. Es geht ihm nicht um Emotionalität und Realität, sondern darum Lehre und Erkenntnis durch eine fiktive Welt aus der Distanz zu vermitteln. So bleibt es auch bei dieser Inszenierung dem Zuschauer überlassen, Religions- und Kapitalismuskritik aus dem dunkel komödiantischen Stück abzuleiten.
Grandios, wie die Düsseldorfer Inszenierung diese Distanz mit künstlerischen Mitteln erschafft: Da sind zunächst die zwei – oder nehmen wir den Himmel dazu – drei Ebenen der Bühne, die wie die Handlungsebenen im Stück , nicht zueinander finden: Himmel, Kapital, Elendsviertel. (Bühne: David Hohmann) Auf diesen Bühnenebenen bewegen sich Figuren, die nicht von dieser Welt zu sein scheinen: es sind keine geraden, aufrechten Körper, sondern verfremdete, verdrehte, gekrümmte Wesen die da herumhuschen und dem Geschehen etwas Groteskes, Abstraktes manchmal auch Unheimliches geben (so die grandiose Anya Fischer als eingeweihte Witwe Shin). Selbst die Protagonistin Shen Te/ Shui Ta, die zwar meist aufrecht agieren darf, wirkt in ihren Verrenkungen und unterschiedlichen Stimmlagen fremd und bizarr.
Wie dem Programmheft zu entnehmen ist, sind das alles nicht Zufallsbewegungen, vielmehr handelt es sich um die Choreographie des renommiertesten Butoh-Meisters Deutschlands, des Japaners Tadashi Endo. Butoh, eine zeitgenössische japanische Tanzform, die den Körper bewusst verfremdet, inspirierte das Ensemble zu den Bewegungsabläufen und Outfits und schuf so eine fremde, geheimnisvolle Grundstimmung.