Warnungen aus der Vergangenheit
Ein bisschen zu schnell und abwechselnd in deutscher und ukrainischer Sprache klingen die Computerstimmen aus dem Lautsprecher. Wir hören fiktive Radionachrichten über reale Ereignisse aus den Jahren 1931 ff., News from the Past über die Wirtschaftskrise und die Arbeitslosigkeit in Deutschland, das Verbot des Verkaufs von als „antisowjetische Literatur“ klassifizierten Bibeln in der Sowjetunion, den Umzug der NSDAP-Parteizentrale in das „Braune Haus“ in München (die „Villa Größenwahn“, wie das ehemalige Palais Barlow dann im Volksmund genannt wurde), die drohende Hungersnot in der Ukraine und vieles andere mehr. Das stalinistische Schreckens-Regime beginnt in der Sowjetunion; in Deutschland ist es die Judenverfolgung. Holocaust und Holodomor: zwei Varianten von Völkermord, mit unterschiedlichen Opferzahlen zwar, aber das dürfte den Opfern selbst und ihren Familien egal gewesen sein.
Die Gegenüberstellung der Grausamkeiten deutscher und ukrainisch-russischer Geschichte ist ungeschönt. Die Verhältnisse in beiden Ländern werden im Verlauf der 1930er Jahre schlimmer, und entsprechend werden die Beispiele, die mittlerweile auch von einem deutschen und einem ukrainischen Schauspieler-Paar zitiert werden, krasser. Sie können einem schon auf den Magen schlagen: 2500 Menschen werden während des Holodomor wegen Kannibalismus verurteilt; einige begannen, ihre eigenen Kinder zu essen. „Papa ist Stalin, Mama ist Hunger und knabbert an den Knochen des Kindes“, wird es später, als der Text ein paar literarische Momente bekommt, einmal heißen. Vitalina Bibliv, eine der beiden ukrainischen Performer*innen in Stas Zhyrkovs Inszenierung, erzählt von Verhaltensweisen ihrer Oma, die aus den Erfahrungen des Holodomor resultierten. „Ich glaube, wenn ich Großmutter bin, werden wir viele weitere traumatisierte Generationen haben“, sagt sie. Wie recht sie hat. Natürlich zielt die Inszenierung auch und insbesondere auf Schlussfolgerungen für den heutigen russisch-ukrainischen Krieg.
Parallelen gibt es auch in der zeitgenössischen Literatur respektive journalistischen Recherche: Schon 1933 prognostiziert der spanische Journalist Manuel Chaves Nogales in einer Artikel-Serie in der Zeitschrift Ahora den später von den Nazis entfesselten Krieg und die „Ausrottung der Juden“; der Waliser Gareth Jones berichtet etwa zur gleichen Zeit über den Holodomor und fällt einem Anschlag zum Opfer, wie die Kölner Theater-Produktion „Die Revolution lässt ihre Kinder verhungern“ von Futur3 und dem Schauspiel Köln ausführlich aufzeigt. Die Produktion der Münchner Kammerspiele rekurriert überraschenderweise nicht auf Gareth Jones, sondern auf die Amerikanerin Anne Appelbaum, die Nachgeborene, die in jüngerer Zeit den Holodomor zu ihrem Thema gemacht hat. - Für den aufgeklärten, politisch interessierten Theaterzuschauer sind das alles keine neuen Erkenntnisse, auch wenn die meisten von uns sich vermutlich über die Parallelitäten zwischen der deutschen und der ukrainischen Geschichte noch wenig Gedanken gemacht haben. Aber es sind fraglos wichtige Fakten, die man sich immer wieder ins Gedächtnis rufen sollte und aus denen man Erkenntnisse für den aktuellen Ukraine-Konflikt und die eigene Haltung dazu gewinnen kann. Edmund Telgenkämper gibt zu bedenken, dass es keine Lösung sei, Gewalt mit Gewalt zu beantworten: Irgendwann müsse man so oder so verhandeln. Das bringt Vitalina Bibliv auf die Palme: Hochemotional argumentiert sie, dass man mit einem Aggressor wie Putin wohl kaum auf Augenhöhe verhandeln könne; Selbstverteidigung und der Kampf für die Wiederherstellung der ursprünglichen Staatsgrenzen ist für sie Bürgerpflicht.
So kommt endlich Leben in die Bude. Die Geschichtsstunde, auf die sich die Inszenierung zunächst beschränkt, ist nicht uninteressant, aber auch ein wenig spröde. Wenn Putin und Puschkin, Stalin und Selenskyi karikiert werden, lockert das etwas auf; der Konflikt zwischen Pazifismus und Verteidigung mittels Waffengewalt bekommt eine gewisse Brisanz (und bringt, man glaubt es kaum, auch eine Spur Komödiantentum ins Spiel). Fakten wechseln sich nun mit einzelnen Anekdoten ab; Spielszenen gibt es nach wie vor kaum. Aber nach circa einer Stunde, exakt der Hälfte des Abends, wechselt die Inszenierung ihren Habitus. Eindringlich wird es, als vor allem Vitalina Bibliv und Dmytro Oliynyk, die beiden ukrainischen Akteure des Quartetts, Erfahrungen und Geschichten aus ihren eigenen Familien einfließen lassen. Später sprechen sie gemeinsam mit ihren deutschen Kollegen ein Langgedicht über das Massaker von Babyn Yar. Der 48stündige Massenmord in Babyn Yar, bei dem circa 33.000 ukrainische Jüdinnen und Juden getötet wurden und Ukrainer sowohl zu den Opfern als auch zu den Helfern der nationalsozialistischen Sicherheitspolizei und des SD gehörten, gilt als Auftakt und Höhepunkt der Massenvernichtung der Juden in Europa. Das von den Schauspielerinnen und Schauspielern vorgetragene Gedicht wirkt wie ein ästhetisiertes Dokument des Schreckens und geht unter die Haut. Plötzlich wird der lange Zeit nur auf der intellektuellen Ebene Reize setzende Abend extrem berührend.
Die Gräuel der 1930er und 40er Jahre wiederholen sich heute im Osten Europas. "Ist der Mensch von Grund auf böse?", fragt die Aufführung. Im mehrheitlich ukrainisch besetzten Parkett fließen Tränen. "Schau dem Dämon ins Gesicht", beschließt Edmund Telgenkämper den konzentrierten Abend. "Füttere ihn. Vielleicht wird er sich am Ende in etwas Schönes verwandeln."