Wer weiß, ob wir morgen noch’s Leben haben
Auf der kleinen Bühne im Unterhaus des Düsseldorfer Schauspielhauses liegen zwischen weißen Säulen von unterschiedlicher Höhe ein paar Kugeln aus ähnlichem Styropor, schlichte Requisiten, die später gute Dienste als einfaches Mobiliar leisten.
„Hey, du da, schöner Engel, komm!“, hören wir eine Frauenstimme. DerReigen beginnt. Doch wer im Schnitzler‘schen Sinne mit der DirneLeocadia rechnet, muss enttäuscht sein: heute ist Leocadia eine fesche , selbstsichere Soldatinin retrofuturistischem Outfit, das wie manche der anderen Kostüme ein wenig von Oscar Schlemmers raumplastischen Figuren des Triadischen Balletts inspiriert sein könnte. (Tolle Kostümideen, im Stück „industriell Look“ genannt, von Juliane Molitor) Der „schöne Engel“, der im Befehlston herankommandiert wird, ist nicht - wie bei Schnitzler beim ersten Paar – ein Soldat, sondern ein „User“, ein vom vielen Internet lustentwöhnterWeichling, der zu Tode erschrickt, als Leocadia zum Original-Schnitzler-Text „Wer weiß, ob wir morgen noch’s Leben haben“, die Pistole zieht, allerdings nur, um sie zur Seite zu legen, damit sie beim Liebesakt nicht stört. Wo bei Schnitzler ein Gedankenstrich folgt, werden in der Düsseldorfer Inszenierung hämmernde Musik und dunkles Flackerlicht eigeblendet, während das Paar mit kantigen Bewegungen den Koitus andeutet - eine Spur Mechanisches Ballett. Und das zehnmal, nach jeder Paarung.
Wer die Besetzungsliste anschaute, weiß, dass dieserReigen von nur zwei Personen gegeben wird - und das, es muss vorweg gesagt sein, einfach hinreißend! In rasantem Rollenwechsel glänzt Alexandra Lukas als selbstbewusste Ehefrau, intelligente Influencerin, als überlegene Schauspielerin, die bei ihrem Auftritt im siebten Bild dem Autor und Regisseur kurzerhand das Heft aus der Hand nimmt, die Rollen austauscht und einen Crashkurs zu Gender, Sex und Machoverhalten abliefert, um dann in der letzten Szene als Aktivistin mit Klebstoff und Pistole noch einen weiteren krassen Akzent zu setzten. (Im Programmheft sind Schnitzlers Figuren aufgezeichnet und so wird klar, dass „das Stubenmädchen“ und „das süße Mädel“ fehlen. Keine Wiener- Kaffeehaus –Atmosphäre.)
Während bei Schnitzler die Frauen eher die auf männliche Forderungen Reagierenden sind, macht Anton Schreiber - als Autor und Regisseur - sie in der Düsseldorf Bearbeitung mit Alexandra Lukas zu Fordernden, bewusst Agierenden. Das weist den reagierenden Part dem enorm wandlungsfähigen Thomas Kitsche zu, der für seine Komik jede Menge Lacher erntet. Herrlich der jammernde Manager im oversized grellgelbem Jackett und Clowns-Fliege, der sich über Langeweile, Primitivität und Beliebigkeit seines Konzernchef-Daseins beklagt und sich zur Zerstreuung von der Klima-Aktivistin Else an den Bettpfosten kleben lässt. Nicht minder komisch die Eheszene, in der er mit meterlangem roten Schlips um den Hals so gut wie alles falsch macht, dann aber doch ran darf, nachdem sie die Tonne (Säule), in der sie steckt, öffnet.
Der gesellschaftskritische Aspekt, den Schnitzler in seinen Typen und der Hilflosigkeit ihrer Begegnungen auch als psychoanalytischen Querschnitt durch die Gesellschaft seiner Zeit verstand, sowie ein Hauch von Wiener Schmäh, der über dem Original liegt, gehen bei der Düsseldorfer Inszenierung allerdings verloren.
Anton Schreiber und seinem Team gelingt es, durch klug veränderte Rollen und angepasste Sprache, Schnitzlers Skandalstück aus dem Jahr 1920 als überzeugende Komödie ins Heute zu holen. Was damals nach der Aufführung in Berlin als „Schmutz und Schund“ beschimpft zum größten Theaterskandal des 20. Jahrhunderts eskalierte, wurde in Düsseldorf begeistert beklatscht und bejubelt.