Vom Trümmerfeld der Seele
Mit Aplomb kippt die steinerne Mauer um. Ihre Trümmer erinnern an Bilder einer kriegszerstörten Stadt, an das, was die Medien seit einem Jahr wieder aus einem Land in Europa zeigen, das von der Ostgrenze Deutschlands knapp 700 Kilometer entfernt ist. Dieses Land hat eine ungefähr 130 km lange Staatsgrenze zu Ungarn, und aus Ungarn floh die 1935 geborene Ágota Kristóf nach dem niedergeschlagenen Volksaufstand des Jahres 1956, um gleichnishafte Romane zu schreiben über die beiden Kinder, die im Depot 2 des Kölner Schauspiels hinter der kippenden Wand stehen, als Mina Salehpours Inszenierung beginnt: über ihr Überleben im Krieg und die Verarbeitung dessen, was sie sich zum Zweck ihres Überlebens beigebracht haben. Es fröstelt, wenn man diesen beiden Kindern zuhört. In Kristofs karger Sprache berichten sie über ihre Erlebnisse und resümieren, wie sie sich damit arrangiert haben. Salehpour aktualisiert nicht, sie lässt Kristófs Text (allerdings stark verdichtet und eingekürzt) im Original wirken. Aber wenn man will, kann man die Romane heute als eine Warnung lesen vor dem, was aus Kinderseelen werden kann, die aus einem vermeintlich sicheren Leben in der Ukraine vor gut einem Jahr unvermittelt in Kriegs- und Fluchterlebnisse gestürzt wurden.
Bruno Cathomas, 57 Jahre alt, und Seán McDonagh, 41 Jahre, spielen die beiden Kinder, die sich chorisch durch den ersten und dialogisch durch den dritten Teil der Trilogie arbeiten. Sie bestreiten die gesamten zwei Stunden allein, nur von Sandro Tajouris rhythmischem, bisweilen maschinenartig klingenden Soundtrack begleitet. „Wir kommen aus der großen Stadt. Wir sind die ganze Nacht gereist. Unsere Mutter hat rote Augen.“ So beginnt ihr chorischer Text, so ist die Sprache in Ágota Kristófs Romanen: Kurze, karge, aber eindringliche Sätze. Die Wand, die vor ihnen in Trümmern liegt, war das Letzte, was den beiden Kindern Schutz geboten hat; das Weinen der Mutter, als sie sie der bösen Großmutter übergibt, einer Hexe wie aus Grimms Märchen, ist die letzte positive Emotion - ja, vielleicht die letzte Emotion überhaupt, die diese Kinder bis zum Erwachsenenalter spüren. Was die Kinder erleben, schreiben sie in Das große Heft, das ihnen der Vater gab, als er in den Krieg zog. Hineinschreiben dürfen sie nur die Wahrheit, nichts als die Wahrheit.
Die Großmutter wohnt auf dem Land in einer kleinen Stadt nahe der Grenze. Dort sollen die Kinder vor den Bombenangriffen und der Tötungsmaschinerie des Krieges sicher sein. Doch niemand weint mehr um sie, niemand wird mit ihnen spielen. Großmutter erweist sich nicht nur als verwahrlost, sondern sie ist auch herrisch, eine Diktatorin ohne Liebe, die die Kinder arbeiten lässt und mit Brosamen abspeist. Sie beschimpft die Mutter als läufige Hündin und die Kinder als Hundesöhne. Für die Kinder heißt das: Krieg im politischen, von ihnen noch nicht verstandenen Umfeld, Krieg und Isolation im Privaten. Unter diesen Umständen trainieren sie das Überleben ohne Schutz und ohne Liebe. Sie härten sich ab, geißeln sich selbst - und verrohen. Sie verbieten sich jedes Gefühl: „Worte, die Gefühle definieren, sind sehr unsicher. Wir vermeiden sie.“ Sie lernen zu stehlen und zu töten; emotionslos schildern sie, wie sie Zeugen von Missbrauch, Vergewaltigung und Tod werden und wie ihre Mutter mit der neugeborenen kleinen Schwester auf dem Arm von einer Granate zerfetzt wird. Eigennützig schicken sie den Vater, der desertiert ist und gefoltert wurde, ins Minenfeld: Denn über die Grenze kommt man nur, wenn man nicht vorausgeht…
Es geht nur Claus. Lucas bleibt zurück. Bislang hatten die beiden Zwillingsbrüder alles gemeinsam gemacht - und alles deckungsgleich. Sie hatten chorisch die gleichen Worte gesprochen, die gleiche Mimik und Gestik gezeigt, waren gleich gekleidet in dunkelgrauer Hose und ungebügeltem weißem Hemd, die zum Verwechseln gleichen schmutzig blonden Haare streng nach hinten gekämmt. Jetzt, im zweiten Teil (Der Beweis) bekommen die Kinder Namen: Der eine ist ein Anagramm des anderen. Claus ist über die Grenze, heißt nach dem Krieg auch: beim Klassenfeind. Lucas bleibt im Heimatland und hat den Spiegel seiner Seele verloren. McDonagh stottert, muss seine Sprache neu finden ohne seinen Synchronsprecher, benötigt Zeit. Lucas holt sich Menschen ins Haus, eine Mutter mit einem behinderten Kind, versucht sich an einer Beziehung. Doch düster bleibt sein Leben, einsam, isoliert. Tajouris Musik erstirbt. Auch dieser zweite Teil der Inszenierung, eine Geschichte, durch die die Inszenierung recht zügig und unter vielen Auslassungen hindurch… nein, nicht galoppiert, sondern eher bedächtig schleicht, endet in einer Katastrophe.
Kein Brief, kein Anruf, keine Kontaktaufnahme von Claus. Und dann, nach Jahrzehnten, kehrt er zurück in die Heimat - mit einem Visum, das er wieder und wieder nicht verlängern lässt, bis er Schwierigkeiten bekommt. Lässt die alte Heimat ihn emotional nicht mehr los? Er sucht seinen Bruder und findet einen Mann, der ihn nicht mehr kennt, vielleicht auch nicht mehr kennen will. Beide haben sich in unterschiedlichen Ländern und unterschiedlichen politischen Systemen mit ihrem Leben arrangiert - zumindest vordergründig. Plötzlich ist das Spiegelbild wieder da, aber es ist nicht mehr wirklich gewollt. Und: Es zeigt Bilder, die überraschen, die das zuvor Gehörte und Gesehene in Frage stellen.
Ruhig, aber beharrlich baut Lucas aus den Trümmern der Mauer, aus den Trümmern der Stadt, aus den Trümmern seines Lebens etwas Neues auf. Es sieht aus wie ein Stelenfeld, könnte aber auch eine neue Stadt mit Hochhäusern sein. Auf manche Steine legt Lucas einen kleinen zweiten Kiesel, wie wir es von jüdischen Grabsteinen kennen. Der Neuaufbau gelingt jedoch nur außen; innen bleibt ein Trümmerfeld, wie in den Seelen von Claus und Lucas. Die zueinander nicht finden, die aber die ganze zuvor gehörte Geschichte auf den Kopf stellen oder zumindest verändern. Claus und Lucas, die anagrammatischen Zwillinge, die synchron Agierenden: Wie viele sind sie? Gibt es überhaupt zwei Brüder? Oder sind Claus und Lucas zwei Optionen ein und derselben Figur? Was an der zuvor erzählten Geschichte ist wahr, was ist Lüge? Was ist verzerrte Erinnerung, was Trauma? Und aus welchem Trauma heraus hat Ágota Kristóf ihre drei Romane geschrieben, die Frau, die einige Jahre ihrer Kindheit in Köszeg verbracht hat, der ungarischen Kleinstadt, damals im Krieg zwei Kilometer entfernt von der Grenze des Deutschen Reiches?
Dort, wo Großmutters Haus stand, ist jetzt ein Sportplatz. Dort spielen Kinder. Lucas und Claus haben nie gespielt. Ist der Blick auf den Sportplatz ein versöhnliches Ende? - Fragen über Fragen. Ágota Kristóf hat ein gnadenloses, ungeschöntes Stück Literatur geschrieben. Aber ihre drei Romane, die Mina Salehpour in Köln so eindrücklich auf die Bühne gebracht hat, „handeln“, so heißt es in einer Rezension des Süddeutschen Zeitung, „ausschließlich von der Liebe.“