Eifersucht in Zeiten der Polygamie
Stellen Sie sich vor, Sie liegen im Bett und kuscheln verliebt und zärtlich mit dem oder der Geliebten. Sie streicheln einander durch die Haare, wunderschöne Augensterne strahlen Sie an, und die postkoitale Traurigkeit ist wundersamerweise ausgeblieben. Mehr an Romantik und Zärtlichkeit kann eine Situation nicht bieten – und dann fallen plötzlich Sätze wie: „Lass uns das nicht in eine Schablone pressen!" Oder: „Liebe ist doch keine endliche Ressource."– Ist ja alles okay, inhaltlich kann man das abnicken. Aber vielleicht hat man sich doch statt einer romantischen Beziehung einen Papier-Tiger (oder eine Papier-Tigerin) ins Bett geholt.
Es ist eine nicht unbekannte Gefahr bei radikalen Klassiker-Überschreibungen, dass die Neufassung dem literarischen Qualitätsstandard des Originals nicht standhält und nicht lyrisch oder dramatisch, sondern papieren wirkt. Das gilt vor allem, wenn sie auch noch eine ideologische Botschaft transportieren soll. Nun ist die Sprache von Georg Büchners Woyzeck auch nicht gerade diejenige, die man sich vom Partner oder der Partnerin in einer Beziehung – und sei es nur eine Freundschafts- oder Feindschaftsbeziehung – vorstellt. Aber sie hat Klang. Sie ist eine Kunstsprache von ungeheurer Melodik und Melancholie, in ihrer Düsternis und ihrem Bilderreichtum ohne Fehl und Tadel. Das klappt bei Glossy Pains Überschreibung nicht gar so perfekt, obwohl auch Katharina Stolls Inszenierung der Neufassung über weite Teile atmosphärische Dichte hat. Melancholie und Melodik erhält die Aufführung weniger durch die Sprache als vielmehr durch die live performten Songs von Riah Knight und eine von den Schauspielerinnen und Schauspielern vermittelte unendliche Zärtlichkeit. Jegliche Künstlichkeit ist der Sprache und der Handlung ausgetrieben. Stattdessen ist der Kunstanspruch verlagert in die Videos von Sebastian Pircher, die nicht nur die Bühne, sondern auch die Wände neben dem Bühnenraum bespielen und häufig eine großartige Symbiose mit der Musik eingehen.
Riah Knight spielt die Margret. Margret kennen Sie nicht? Kein Wunder: Die Nachbarin Maries wird in fast allen Büchner-Inszenierungen gestrichen, auch wenn man ihren kecken Spruch durchaus vermissen mag: Die mannstolle Marie gucke „sieben Paar lederne Hose durch“, lästert die bei Büchner mit -h- geschriebene Margreth, denn sie ist ein bisschen eifersüchtig, weil sie wie Frau Nachbarin nach dem feschen Tambourmajor schielt. Eifersucht hat die Mülheimer Margret nicht nötig. Typ allerbeste Freundin, ist sie eine ideale WG-Genossin für Marie. Sie blickt mit liebevoller Ironie auf Maries grenzenlose Schwärmerei für Franz, und da die beiden Damen ganz selbstverständlich das Konzept von freier Liebe und Polygamie leben, gibt es keinerlei Anlass zur Zickerei. Margret (also Riah Knight) ist die wichtigste Trägerin des feministischen Gedankenguts in Katharina Stolls Inszenierung. Sie erzählt von ihrer Abtreibung und der anschließenden „abortion party“, treibt ein Gespräch über „die strukturelle Unterdrückung unseres Geschlechts“ voran, berichtet, sie habe gleich zweimal in der Woche Exhibitionisten getroffen, die vor ihr masturbiert hätten - na ja, „frei nach Büchner“ ist untertrieben, wenn man den Woyzeck aus dem Jahre 2023 mit dem von 1873 vergleicht.
Nicht nur der Blickwinkel ist ein vollkommen anderer; das Drama setzt auch wesentlich früher ein als das von Büchner, nämlich zu dem Zeitpunkt, als Franz und Marie einander kennenlernen. Als der sanfte, zurückhaltende Joshua Zielinske als Franz erstmals die Küche der beiden Damen betritt, versteht man ganz gut, dass Marie gleich so verliebt ist, dass sie für feministische Theorien gerade keinen Kopf hat. Doch weit gefehlt. „There ist plenty of room in my heart“, wird Marie später einmal sagen. (Die Inszenierung ist zweisprachig deutsch-englisch; vor allem die Passagen der in Sussex geborenen britischen Schauspielerin und Singer-Songwriterin Knight sind in englischer Sprache gehalten.) Plenty of room in her heart – das glaubt man der jungen Dame aufs Wort, so positiv und vorurteilslos wie sie in die Welt schaut. Der Platz, den sie in ihrem Herzen hat, ist größer als es die konventionelle Denkweise von vielen heutigen Menschen und leider auch von Franz zulässt. „Der Mensch ist frei. In dem Menschen verklärt sich die Individualität zur Freiheit“, heißt es bei Büchner. Da spricht diese Worte der Doktor, und zwar im Zusammenhang mit Franzens Urinprobe. Glossy Pain zitiert den Satz in anderem Zusammenhang und schiebt eine Prognose bezüglich Maries Beziehungsstatus nach: „Morgen hat sie wieder einen neuen Woyzeck.“ Für die Mülheimer Marie ist das eh ein klarer Fall: Freie Liebe ist für sie selbstverständlich, und zwischen der Liebe zum Sex und der Zuneigung zum Sexpartner kann sie messerscharf trennen. In ihrem Herzen ist Platz für alle, Monogamie ist ein veraltetes Konzept. So pennt sie zur Abwechslung auch mal mit Andres, Franzens nettem Freund. „Bin doch ein schlecht‘ Mensch“, lächelt Marie kokett und zitiert Büchner. Blöd nur: So frei wie Marie denkt Franz nicht. So kommt es zum Mord.
Zum Femizid, wie das Produktionsteam es nennt. Das ist eine korrekte Bezeichnung, klingt aber etwas marktschreierischer. Auf die große Zahl an Femiziden, die noch heute in der Gesellschaft vorkommen, will das Team aufmerksam machen. Bei Büchners Woyzeck … ist das einer, da beißt die Maus keinen Faden ab, auch wenn der Mord psychologisch erklärt werden kann und der intellektuell eher minderbemittelte Woyzeck einfach seinen Gefühlshaushalt nicht mehr unter Kontrolle hat. Büchners Woyzeck hat weder Perspektive noch die Fähigkeiten, seine empfundenen Verletzungen zu verarbeiten. Sein Mord an seiner Geliebten ist sinnlos und erschreckend, aber man blickt angesichts dieser Tat auch tief in die Seele eines geprügelten Mannes. Den Mord von Joshua Zielinskes Franz an Amanda Babaei Vieiras Marie muss man dagegen einfach glauben. So richtig psychologisch erklärbar ist er nicht. Marie und Franz waren ein wunderbares Paar. Sie waren es, weil sie so voller Zärtlichkeit waren, so voller Rücksichtnahme. In Mülheim spürt man diese Zärtlichkeit, und man spürt auch Franzens Traurigkeit. Sensible Schauspielerinnen und Schauspieler spielen sensible Menschen - man schließt sie ins Herz. Zielinskes Franz hätte sowohl die soziale als auch die intrapersonale Intelligenz, um über seine Enttäuschung hinwegzukommen, vielleicht gar um sich ebenfalls auf das Modell einer polyamourösen Beziehung einzulassen. Er ist eigentlich kein Typ für einen Mord aus Eifersucht. - Aber man guckt ja nicht rein…
Es gibt dann noch eine lange Schlussszene. Amanda Babaei Vieira wirft so manchen Blick auf die übliche Beurteilung und Aufarbeitung von Femiziden durch Justiz und Öffentlichkeit und findet viele Unzulänglichkeiten und Widersprüche, die auf eine nach wie vor sehr maskulin geprägte Sichtweise hinweisen. Diese Botschaft hätten wir auch ohne den langen Schlussauftritt verstanden. Aber Glossy Pain geht auf Nummer sicher.