Übrigens …

blut wie fluss im Bonn, Theater

Mehr Demokratie wagen

Es regnet Katzen und Hunde. Vorn an der Rampe ist ein kleiner Wassergraben. „Niemand kann sagen, was war eher - die Flut oder die Wut?“, heißt es in Fritz Katers jüngstem Text, der am Schauspiel Bonn uraufgeführt wird. Assoziationen an die Ahrtal-Katastrophe stellen sich ein, sollen sich vermutlich auch einstellen in diesem Stück, das einen kaleidoskopartigen Blick auf das Nachkriegs-Deutschland von 1946 bis in die Gegenwart wirft. Aber das Wasser symbolisiert den Rhein, und gemeint ist das Rhein-Hochwasser von 1993. An diesem Fluss liegt eine kleine Großstadt, die einmal große, ja: weltpolitische Bedeutung hatte: Bonn. Das Theater dieser Stadt hat das Werk in Auftrag gegeben, das das Publikum in den Godesberger Kammerspielen vor große Rätsel stellt, aber gleichzeitig einen spannenden assoziativen Gedankenfluss in Gang setzt. blut wie fluss heißt es, Sünde wie Rhein. Ursprünglich sollte es einmal „labyrinth“ heißen. Man kann sich darin verlaufen.

Als Wegweiserin dient Lena Geyer. Sie spielt die Regisseurin und Autorin - auch der Autor des heutigen Abends und sein Regisseur Armin Petras sind im wahren Leben ja ein und dieselbe Person. Geyer sitzt an der rechten Bühnenseite und bringt Struktur in die Aufführung: mit Szenen-Ansagen, kurzen Erläuterungen, zeitlichen Einordnungen. Zunächst scheinbar unverbundene Episoden werden jeweils (mal mehr, mal weniger nachvollziehbar) mit einer der sieben Todsünden in Verbindung gebracht - auch da hilft einem Lena Geyer aufs Pferd. Die Wut ist die erste der Todsünden, die zur Sprache kommt. Was war eher - die Flut oder die Wut?

Milena (Annika Schilling) ist wütend auf ihren Vater, der einst die Mutter verlassen hat. Vater war der „Wasserchef von Bonn, der Rheinversteher“. Irgendwann erfahren wir: Der Rheinversteher und Verantwortliche für Gegen-, Rettungs- und Evakuierungsmaßnahmen hatte bei der Flut von 1993 keine Zeit, dem Fluss zuzuhören, weil er gerade von einem Techtelmechtel mit Frösi abgelenkt war. Und irgendwann erfahren wir, dass Frösi sich im Alter von 79 noch ein Kind wünscht. Und irgendwann erfahren wir, dass es sich bei Frösi um die ehemalige Sekretärin von Willy Brandt handelt. Und irgendwann erfahren wir, dass Frösi das Kind der schwangeren moldawischen Studentin Marta kauft, die bei einem Autounfall ums Leben kam. Irgendwann vorher haben wir schon erfahren, dass Marta die Geliebte des ehemaligen erfolglosen Schriftstellers und heutigen Hilfskochs Terodde war (der ein Buch über die „Sieben Todsünden“ geschrieben hat und in Bonn sogar durch seine Kostümierung als Alter Ego von Petras gekennzeichnet wird). Irgendwann haben wir erfahren, dass Terodde der einstige Partner von Milena war. Deren verhasster Vater, der auf eine Herztransplantation wartet, bekommt gegen Cash das Herz der verunglückten Marta, das ihm jedoch nur vorübergehend von Nutzen sein wird. Und dann gibt es da noch Yussuf, den sympathischen palästinensischen Biologie-Studenten, der Marta versehentlich umgenietet hat und jetzt um seine Aufenthaltsgenehmigung fürchtet, den realen Spion Günter Guillaume nebst seinem Sohn Pierre, der mit dem Bonanza-Rad von Willy Brandts Sohn Matthias herumfährt, Milenas Zwillingsschwester und Krankenschwestern und diverse Politiker nebst Gattinnen und … und … und … - Insgesamt teilen sich schlappe sechs Schauspielerinnen und Schauspieler 25 verschiedene Rollen, und nix wird chronologisch erzählt.

Da soll nun einer durchblicken. Zumal es noch jede Menge essayistischer und philosophischer Einschübe gibt, der Hitler-Stalin-Pakt und die feministischen Grundrechte in Kurdistan angesprochen werden, Stefan Heyms Roman über das nach dem Zweiten Weltkrieg für die Dauer von 42 Tagen autonome Schwarzenberg im Erzgebirge gestreift wird und vieles andere mehr. Ja, vielleicht ist das „Überforderungstheater“, wie der Bonner Generalanzeiger in seiner Premierenkritik schreibt; man bekommt irgendwann nicht mehr alle Puzzle-Teile zusammen. Vielleicht ist der Text gedanklich völlig überladen. Aber er eröffnet Denk- und Assoziationsspielräume. Je weiter der knapp zweieinhalbstündige Abend fortschreitet, desto mehr steht der Aufstieg und Fall von Willy Brandt im Zentrum: seine Entspannungspolitik, der gescheiterte, gegen seine Ostpolitik gerichtete Misstrauensantrag von 1972, die Guillaume-Affäre von 1974, die zum Rücktritt des Kanzlers führte, und immer wieder sein Mantra vom „Mehr Demokratie wagen“. Gleich mehrfach werden kurze Passagen der heute noch ikonischen Rede, die diesen Begriff fest im kollektiven Gedächtnis der alten Bundesrepublik verankerte, im Original-Ton eingespielt. Milena, Historikerin an der örtlichen Universität, blickt zurück auf die Jahre Brandts im norwegischen Exil, und fragt, ob die Erlebnisse und Erfahrungen im Widerstand die Ziele, das Verhalten und die Durchsetzungsfähigkeit des Kanzlers im Hinblick auf die Weiterentwicklung der Demokratie in Deutschland beeinflusst haben.

Kater und sein Alter Ego Petras wollen untersuchen, ob die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland einen anderen Verlauf genommen hätte, wenn Brandt nicht an der Spionage-Affäre um einen seiner engsten Mitarbeiter gescheitert und ihm stattdessen eine längere Regierungszeit vergönnt gewesen wäre. Sie blicken dabei auf die politischen Ereignisse jener Zeit, aber auch mit fiktiven, auf komplexe Weise miteinander verknüpften Episoden auf den Alltag in Deutschland zwischen 1946 und 2015. Auch der Blick auf die große Politik ist gefiltert durch die Wahrnehmung verschiedener Individuen: einerseits der fiktiven Wissenschaftlerin Milena, anderseits - und das ist viel spannender - des von Christian Czeremnych verkörperten Pierre Guillaume. Der Sohn des Agenten und Brandt-Vertrauten wusste bis zur Enttarnung des Vaters nichts von der Agenten-Tätigkeit der Eltern, spürte aber, wie er selbst und seine Familie für die Ziele seines Vaters instrumentalisiert wurden. Pierre ist die Marionette, der nützliche Idiot. Es ist eine Erfahrung, die er mit den Brandt-Söhnen teilt - in dem 2004 entstandenen Film Schattenvater berichten Pierre Boom, wie er heute nach dem Mädchennamen seiner Mutter heißt, und Matthias Brandt ausführlich über das Verhältnis zu ihren Vätern. Auch von Walter Kohl gibt es hierzu bekanntlich einige erschütternde Aussagen.

Das Verhältnis der Kinder zu ihren Übervätern - da sind wir doch glatt wieder am Beginn des Stückes, bei Milena und ihrem verhassten Wasserchef-Papa. Aber da sind wir auch beim Regisseur, bei Armin Petras und seiner privaten Geschichte sowie seinem Lebenswerk. Auch Petras‘ Vater wurde einst als DDR-Spion enttarnt, so dass die Familie in das Land mit den sozialistischen Heilsversprechen auswandern musste, als der junge Armin vier Jahre alt war. Immer wieder hat sich Petras respektive sein Alter Ego Kater, dem Petras eine spiegelbildliche Biografie verpasst hat, mit diesen biografischen Brüchen und dem problematischen Umgang damit beschäftigt. Vermutlich hat auch er empfunden, dass seine Familie für Politik und Intrige instrumentalisiert wurde. Immer wieder ist in Katers Text von Einsamkeiten die Rede.

So kritisch das Familienbild der Guillaumes und der Brandts gezeichnet wird, so sehr lässt Petras in blut wie fluss eine Sehnsucht nach dem Brandtschen Demokratie-Verständnis spüren. „Wir müssen mehr Demokratie wagen“, fordert der Kanzler. „Wir können das schaffen.“ Aber es brauche mehr Mitbestimmung, mehr Mitverantwortung, mehr demokratisches Engagement der Bürger. Das ist nicht nur aktuell, das ist fast schon gegen den Strom gesprochen, bedenkt man, wie sehr die Demokratie heute von vielen Seiten angegriffen wird. Wie sagt Willy Brandt in Katers Stück: „Mein Wille ist mutig, und er lebt.“

Ein bisschen mutig ist es auch, vor welche Herausforderungen Fritz Kater und Armin Petras uns mit der überbordenden Komplexität ihres Texts zu stellen wagen. Aber das Stück lebt.