Alles andere als eine harmonische Familie
Lea Ruckpaul, bis 2022 Schauspielerin im Düsseldorfer Ensemble, hat ihr erstes Stück geschrieben. Ein äußerst bemerkenswertes Werk über Familienbeziehungen mit all ihren Untiefen, Lügen und Täuschungen. Ruckpaul: „Wenn alle Beteiligten permanent fühlen, dass gelogen wird, obwohl ihnen etwas anderes erzählt wird, dann verlieren sie die Beziehung zu sich selbst.“
Im Zentrum dieser Uraufführung steht Pi, eine junge Frau, die zunächst von ihrem Erlebnis in einer Museumsinstallation berichtet. Sie saß in einem „Raum der Stille“. Blanka Winkler, ganz in unschuldiges Weiß gekleidet, spielt die zentrale Figur des Abends umwerfend gut. Pi ist eine mathematische Konstante, sie ist irrational und unendlich.
Die Protagonistin erklärt ihrer Familie gleich zu Beginn, dass sie nicht mehr weiterleben will, gibt jedoch in keiner Weise einen Grund an. Weiß sie es überhaupt selbst? Sie macht ihren Familienangehörigen ein Angebot: sie will allen - als Ausgleich oder Trost für die Lücke, die ihr Tod reißen wird - einen Wunsch erfüllen. Pi erfüllt dann doch diese Wünsche ganz anders, als die Familie es erwartet.
Ruckpaul interessiert an der Erlöserfigur, so wie Jesus Christus eine Symbolgestalt für die Hoffnung und Erlösung ist, der egoistische Gedanke: „Welchen Vorteil kann ich daraus ziehen, wenn jemand mir die Verantwortung für mein Handeln abnimmt?“
Pis Familie ist alles andere als eine harmonische Familie. Da ist ihr Bruder Thomas (Florian Claudius Steffens), einst als erfolgreicher Start-up-Unternehmer gefeiert („blenden kann ich“) und jetzt pleite („habe mich verzockt“). Ihre Freundin Hanna (Minna Wündrich), Psychotherapeutin und oft im Netz unterwegs, ist voller Wut auf all die Hassprediger dort („Zwitterarschlöcher“). Ali (Sebastian Tessenow), Pis Exfreund, kann den Tod seines Sohnes nicht verwinden und möchte, dass seine Freundin genauso leidet wie er. Da ist dann noch Pis Mutter Monika (absolut grandios Friederike Wagner), die sich lange ohne Dank ausgenutzt fühlte, wenn sie sich um die überaus schwierige Schwiegermutter kümmerte. Der Vater (überzeugend Wolfgang Michalek) will endlich wieder schlafen können, verfolgt ihn doch der jahrelange Missbrauch Ewas, der Jugendfreundin seiner Tochter. Durch eine finanzielle Unterstützung will er etwas gut machen. Pi will seine Beichte nicht hören und reagiert extrem aggressiv. Und da ist da noch diese junge Erwachsene, Ewa (Cennet Rüya Voß). Während sich sonst das Geschehen in einem Holzhalbkreis, der sich zum Publikum hin arenaartig öffnet, abspielt, tritt Ewa aus dem Zuschauerraum auf. Ein weiterer Unterschied: sie trägt Alltagskleidung, während die anderen zunächst in fast märchenhaften Kostümen mit allerlei Verzierungen auftreten, die sie erst nach und nach ablegen. Ewa sieht sich nicht als Opfer. Sie erläutert nüchtern, dass das Gefühl des „Ausgeliefertsein“ Teil ihrer Sexualität geworden ist. Und sie schaut in die Zukunft, will nach Island gehen, wo geologische Wärmeanomalien in riesigen Mengen auf Zugriff warten: „Die Erde kann uns den Arsch retten.“ Am Ende hält sie einen kraftvollen Monolog zu diesem Thema und begründet ihre Absicht, sich in der Forschung zu engagieren.
Bernadette Sonnenbichler ist eine sehr einfühlsame, akzentuierte Inszenierung gelungen, die einen sehr bewegt. Man kann diesen Abend nur in jeder Hinsicht loben, vor allem die exzellenten Schauspieler, allen voran Blanka Winkler. So sollte Theater im optimalen Sinne sein. Man denkt noch lange über das Gesehene nach. So ist es bei dieser äußerst berührenden letzten Premiere der Spielzeit.
Jubelnder, langer, verdienter Applaus.