Das Knurren der Hündin
Kassandra flüstert. Die Dame ist, wir wissen es, die Seherin, auf die niemand hört. Wer Pech hat, muss im Schauspiel Köln erstmal ein paar Minuten an den Kopfhörern nesteln und die Lautstärke einstellen. Sonst geht es einem wie der trojanischen Bevölkerung: Man wird Kassandra nicht hören. Doch es ist wie im alten Troja: Wir sollten ihr besser unser Ohr leihen.
Im ersten Teil ihrer Theater-Installation hat Regisseurin Lucia Bihler die Zuschauerinnen und Zuschauer getrennt. Wer im Parkett sitzt, folgt konzentriert der Kassandra von Alina Heipe, die vor dem Vorhang ganz in Rot und mit unendlich langer Schleppe Andeutungen, Vorhersagen, aber auch Flüche ins Mikro haucht. In Großaufnahme werden ihre roten Lippen auf den Vorhang projiziert. Sie beklagen den bevorstehenden Untergang Trojas und die Machtlosigkeit ihres, des weiblichen Geschlechts: „Ein Nichts sind wir, Rauch eines Feuers, das erloschen ist.“ Oft ist die Sprache von John von Düffels Bearbeitung poetisch, mal ist sie voller Trauer, mal warnend: „Schau hin. Alle Männer, Söhne, Väter sind tot. Troja ist vernichtet.“ Doch zwischendurch bricht die Wut aus Kassandra heraus. Diese Wut richtet sich gegen die Männer, gegen die Krieger, die Troja überfallen und die Frauen entführen und vergewaltigen werden: „Männer in Schweinsgestalt, Folterknechte, Ratten.“ Euripides‘ Drama kann man als Kritik an der rücksichtslosen Machtpolitik Athens interpretieren; Lucia Bihler wirft einen kritischen Blick auf die Rücksichtslosigkeit des männlichen Geschlechts. Die roten Lippen haben nichts mit Verführungskraft zu tun. In dieser Inszenierung, die ausschließlich in den Farben Rot und Weiß daherkommt, steht Rot für Blut, Leid und Rache. - Zu flackerndem Licht ertönt ein Grollen. Es ist das Knurren eines Hundes; dem sensiblen Zuschauer beschert es fast körperliches Unbehagen. „Erst kommt das Knurren, dann kommt die Folter“, raunt Kassandra.
Das sind Wirkungstreffer in einem unglaublich intensiven Monolog – jedenfalls wenn man bereit ist, sich einzulassen auf das, was das Schauspiel Köln zu Recht eine „auditive Installation“ nennt. Die Intensität ist nicht nur der Schauspielerin, sondern auch und vor allem dem grandiosen Soundtrack von Jacob Suske geschuldet, dessen Harmonien und Melancholien von gelegentlichem dramatischem Aufwallen und plötzlichen schrillen Schreien unterbrochen werden. Suskes Sounddesign ist maßgeblich für die emotionale Wirkung der circa zweistündigen Aufführung verantwortlich und trägt in ungewöhnlichem Ausmaß zum Verständnis der Inszenierung bei. Es wiederholt sich, wenn man nach dreißig Minuten die „Installation“ besichtigt (respektive die andere Hälfte der Zuschauer dem Kassandra-Monolog lauscht). Wer mit Kassandra begann, hat bereits durch die schmale Tür im Vorhang gelugt, die den Blick auf Troja freigab – auf die Stadt oder den Palast, so genau weiß man das zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Ganz gelegentlich gab es sogar einmal Interaktionen zwischen den beiden Geschehnissen vor und hinter dem Vorhang. Nun aber betritt man die Installation, bewegt sich frei im Palast von Hekabe, Andromache und Helena. Ja, auch sie wohnt in diesem strahlend weißen, mit kühler Eleganz prunkenden Prachtbau: Lola Klamroth gibt diese schönste Frau unter der mediterranen Sonne, derentwegen vorgeblich der Trojanische Krieg angezettelt wurde. Sie war, wie man aus der antiken Gerüchteküche hört, weder bei Troerinnen noch bei Griechinnen sonderlich gut gelitten.
Noch lebt Troja also; wir wandern durch Wohn- und Schlafräume, Küche und Bad, schauen auf die überall herumliegenden unscharfen Familienfotos, und wer sich traut, lässt im Pool ein paar von den Papierschiffchen fahren, die die Kinder gebastelt haben. Noch kreuzen ja friedliche Segelschiffe auf dem Mittelmeer. Es wird Brot gebacken; ein angefangenes Schachspiel steht im Schlafzimmer. Irgendwer hat Helena einen handschriftlichen Brief hinterlassen mit einem vergifteten Wunsch nach Glück und Wohlergehen mit ihrem Lover Paris – sie lasse sich doch so gerne die Füße kraulen. Welche Bitch hat denn das geschrieben? Auf dem Frühstückstisch steht ein halb aufgegessenes Ei im Eierbecher (Sie erinnern sich, alles ist weiß in diesem Palast), und Mutter (Birgit Walter) ist ein wenig genervt von den halbwüchsigen Söhnen. Eigentlich ist alles also wie bei Ihnen und bei mir zu Hause, Alltag mit Love and Labour und den üblichen Familienkrächen und Eifersüchteleien.
Und doch wirkt die Idylle trügerisch. Der Palast mutet an wie ein Haunted House. Schwebt da schon das Damoklesschwert des Untergangs über der dekadenten Stadt? Vielleicht herrscht ja auch schon Krieg. Aus dem Radio klingen Katastrophenmeldungen – und Analysen und Appelle: „Die Verantwortung liegt bei uns.“ Ab und an begegnen wir einem am ganzen Oberkörper tätowierten Hector, aber Männer gibt es sonst kaum in dieser sauberen, weißen Welt. Sind sie schon ausgezogen zur Verteidigung der Stadt oder gehen sie ihrem Tagwerk nach und belassen in alter Tradition die Zuständigkeit für Kinder, Küche, Kirche beim weiblichen Geschlecht? Was vordergründig harmonisch wirkt, wird unterbrochen durch Schreie - und feministische Texte. Wieder fällt der Begriff Wut: „Wut bedeutet das Gegenteil von Scham“, heißt es. Die Frauen wehren sich dagegen, dass Männer die Macht über das Leben der Frauen ausüben und fordern das Recht auf Selbstbestimmung ein. - Schließlich laden die Damen einige Zuschauerinnen zu einer rituellen Waschung ein. Die Schauspielerinnen stimmen zusammen mit dem Publikum einen langen, gleichförmigen Ton an, über den sich eine von einer einzelnen Schauspielerin gesungene Melodie legt. Er entsteht so etwas wie ein Gemeinschaftsgefühl. Miteinander, nicht gegeneinander im Kampf der Wagen und Gesänge, der Völker und der Geschlechter – ja, das wär’s..
In jedem Raum des Palastes steht ein kleines Podest. Ab und an steigt eine der Frauen hinauf und posiert. Als lebloses Denkmal, als Objekt für die Männer? Oder als Menetekel? Wir werden ähnliche Posen noch im Schlussabschnitt erleben, und da werden sie schmerzen. - Zu diesem letzten, etwa einstündigen Teil finden sich alle Zuschauerinnen und Zuschauer im Parkett zusammen. Erstmals blickt man nun auf die Installation in ihrer Gesamtheit – auf Troja, die elegante, weiße Schöne unter den Städten, die Wolfgang Menardi wunderbar entworfen hat. Und rums: stürzen alle Mauern ein und begraben Mensch und Material unter sich. Die Frauen ziehen ihre gefallenen Männer unter den weißen Planen der zerstörten Stadt hervor. Eine jede hat ihre individuelle Art, mit dem Tod umzugehen. Die Männer gehen ab; nur König Priamos wird gemeinsam von den Frauen zu Grabe getragen. Mit seinem Bart sieht er fast aus wie Zeus – die Götter haben Troja verlassen.
Jetzt wird Euripides‘ Drama in Szene gesetzt. Aber im Grunde bleibt die Inszenierung im Status einer Kunst-Installation mit erlesenen rot-weißen Farbkompositionen und grandioser Musik. Der Worte bedarf es wenig; das Publikum muss sich einlassen auf eine sprachlich reduzierte, aber ungeheuer bildmächtige Erzählweise. Mit edlen – manche Premierengäste sagten auch: esoterischen – Bildern geht die Welt zugrunde. Die Männer sind nicht zu sehen, aber zu hören: über Megafone: „Wir triumphieren, und die Trophäen seid ihr Frauen mit Haut und Haar. Es ist das Recht der Sieger.“ Wenn die Frauen später verschifft werden nach Griechenland, dann erinnern diese Megafonstimmen an die überlieferten Szenen bei Ankunft der nationalsozialistischen Deportationszüge im Konzentrationslager. Noch dominieren Bilder der Trauer; eine der Frauen versucht sich zu ertränken und wird von der Solidargemeinschaft der übrigen Frauen daran gehindert. Die halbwüchsige Königstochter Polyxena wird tot aufgefunden; weinend übergibt Andromache (Paulina Alpen) ihr Baby Astyanax dem Feind. Der rechtmäßige Thronfolger muss selbstverständlich sterben.
„Die Sieger haben sich die Beutestücke ausgelost“, heißt es wieder per Megafon. „Bordell oder Bergwerk – einerlei.“ Resignierend bieten sich die Frauen an, stehen erneut auf Podesten, diesmal im roten BH, mit hochgezogenem Rock. Sie prostituieren sich, werden versklavt. Andromache, die noch um ihr Kind kämpft, geht am weitesten. Birgit Walter, die „Mutter“, versucht die Frauen zu kleiden – vergeblich: Ein Aufstand gegen die Macht der Männer erscheint zwecklos. Helena, die schönste aller Frauen, steht auf dem höchsten Podest, hat vielleicht die besten Aussichten auf eine gute Partie in diesem üblen Spiel, doch sie wird von den übrigen eingefangen und vom Podest geholt. Man rüstet sich zur Reise, kämpft um einen Rest von Würde. „Und der Hund?“, fragt Kassandra. Das Grollen ist wieder zu hören, das Knurren der Bestie. Der Hund? „Sie ist eine Hündin, du weißt es genau … Die Wut ist unsere Zukunft.“ Gemeinsam steigen die Frauen ins Wasser. Ihre roten Schleier werden zu einer Blutspur.
„Eine Zeit wird kommen, da keinerlei Wut mehr liegt im ewigen Gebrüll des Meeres“, heißt es in einem der Texte des russischen Schriftstellers Leonid Andrejew (1871 – 1919). Miteinander statt gegeneinander – das wäre eine schöne Utopie gerade in den gegenwärtigen Zeiten des Wutbürgertums. Lucia Bihler bezieht sich, wie man im Programmheft nachlesen kann, auf den Wutbegriff der 1992 verstorbenen afroamerikanischen Feministin Audre Lorde, die Wut nicht als destruktiven Hass verstanden wissen will, sondern als Antrieb, um Visionen und neue Gesellschaftsmodelle zu entwickeln. Das moderne, ästhetisch grandiose spartenübergreifende Kunstwerk, das Lucia Bihler aus dem antiken Text des Euripides entwickelt hat, ist schon mal ein vielversprechender Anfang.