Drei Elfies und ein Ehemann
An einer Art Technikpult sitzt Bernd Moss und gibt „das Stück Mann“, mit dem Elfriede Jelinek 50 Jahre lang verheiratet war. Im September vergangenen Jahres ist ihr Gatte verstorben; da war der Text Angabe der Person schon geschrieben, aber die Arbeit an der Uraufführung hatte noch nicht begonnen. Jelinek, die seit Jahren in ihren literarischen Arbeiten auch eine große Selbstbespieglerin ist, hat nie einen Satz über Gottfried Hüngsberg geschrieben. Auch jetzt hat der Informatiker und Komponist kaum etwas zu sagen. Er murkelt nur an Laptop, Sound und einem Papierstapel herum und steht drei Facetten seiner Frau zur Seite, die das Wasser nicht halten kann, wenn sie ihre nicht enden wollenden, thematisch irrlichternden Textflächen komponiert. Drei Schauspielerinnen geben drei Elfies und rattern in atemberaubendem Tempo drei Monologe herunter. „Beeilt euch, sonst ist der Krieg aus, und ihr seid nicht unter den Opfern“, kalauert die Jelinek zynisch und beschließt kurz darauf: „Deshalb sag ich jetzt nichts mehr.“ - „Schön wär's“, seufzt Moss.
Kein Scherz: Elfriede Jelinek, die österreichische Literaturnobelpreisträgerin mit Wohnsitz in München und in Wien, hatte jüngst die - deutsche - Steuerfahndung am Hals. Sinnbildlich dafür steht in Anja Rabes kargem Drehbühnenbild ein Lokus. Nicht weil die Steuerfahndung der Frau J. am A… vorbeigegangen wäre, sondern weil die Nutzung der Wasserspülung des Klos gemessen und als Indiz dafür herangezogen wird, ob jemand zu Hause war - Sie wissen schon, 183-Tage-Regelung und so, wer lang genug jenseits der Grenze kackt, ist möglicherweise nur begrenzt steuerpflichtig. Dass die Nobelpreisträgerin, die seit Jahrzehnten mit Bernhard’schem Furor über die Alpenrepublik herzieht, trotzdem ihren Hauptwohnsitz in Wien hat, mochten ihr die deutschen Behörden nicht glauben. „Jetzt (aber) ist die Zeit für Festnahmen und Maßnahmen“, fürchtete Jelinek. Doch gibt es keinen Grund zur Niedergeschlagenheit, denn das Verfahren wurde zwischenzeitlich niedergeschlagen. So kann Frau Jelinek denn witzeln über die „Hinterziehung als Volkssport“, als ein Sport wie so viele der anderen Skills, die man als gesellschaftsfähiges Individuum beherrschen muss und die Jelinek hasst, ein Sport wie Schwimmen, Fahrradfahren und Skifahren.
Doch Witz lass nach: Jelinek macht sich Gedanken über die Staatsgewalt, und dabei fallen ihr ihre jüdischen Vorfahren ein. Ihr Opa zum Beispiel, der „nirgendwo anders hinwollte … ins KZ wollte er auch nicht er war halt wählerisch“. Opa versuchte, in die Schweiz zu emigrieren, wo man ihn jedoch an der Grenze zurückwies. Onkel Adalbert überlebte das KZ, beging aber kurz nach dem Krieg Selbstmord; ihre Tante kam im Lager um. Exemplarisch arbeitet sich Jelinek an zwei Vertretern des Nazi-Staats ab: an Baldur von Schirach, dem NS-Reichsjugendführer und ab 1940 Gauleiter und Reichsstatthalter in Wien mit Sitz in der Hofburg, sowie an seinem Vorgänger als Reichsstatthalter Arthur Seyß-Inquart, vormals Rechtsanwalt in Wien. „Nein, den Anwalt Arthur kriegen Sie nicht, den haben sie in Nürnberg aufgehängt“, ätzt die nun selbst juristischen Beistand benötigende Autorin und zieht ironisch den Hut vor der souveränen Reaktion Seyß-Inquarts auf sein Todesurteil. Sie spricht über die Gewalt von Sprache, Staat und Gerichtsbarkeit, über Täter und Opfer. Ihre Wut oder auch ihre kalauernde Kritik mäandert wie gewohnt quer durch all die Aufreger-Themen heutiger Medien, Politiker und Aktivisten: Fremdenfeindlichkeit und Flüchtlingspolitik, Datenschutz und Coronaleugner und vieles anderes mehr. Aber im Zentrum stehen ungewöhnlich konzentriert (zumindest in der Berliner Textfassung) die Schikanen der Steuerfahndung und die vom gleichen Staat respektive Volk ausgehenden Gräuel der Nazizeit. Jelinek wird von deutschen Behörden der Steuerhinterziehung im Zusammenhang mit ihrem Nobelpreis bezichtigt, von Schirachs Ex-Frau Henriette dagegen bekommt nach dem Krieg gegen einen geringen Obolus vom bayerischen Staat ein ehemaliges Grundstück am Kochelsee zurück - widersprüchliche Seiten der Staatsgewalt, wie die Autorin suggeriert. Dass beide Ereignisse sich in einem zeitlichen Abstand von circa 65 Jahren zugetragen haben und die deutsche Politik in dieser Zeit sicherlich gleich mehrere Zeitenwenden hinter sich gebracht hat, schert die Autorin nicht: Jelinek ist empört. „Ich hasse zu viel, das zehrt mich auf“, sagt sie.
Deshalb will Jelinek jetzt nichts mehr sagen? Nein, Herr Hüngsberg, nicht schön, sondern traurig wär’s, wenn Ihre Witwe schweigen würde. Auch wenn sie stets ein paar geniale Übersetzer und Übersetzerinnen braucht - so phantasievolle oder einfühlsame Regisseure wie Jossi Wieler, so herausragende Schauspielerinnen wie Linn Reusse, Fritzi Haberlandt und Susanne Wolff. „Furchterregend“ sei der „Monolith von Text“ gewesen, den in eine spielbare Form zu bringen erst nach mehreren Fehlversuchen gelungen sei, berichtet das Team vom Deutschen Theater Berlin. Jossi Wieler, sein Dramaturg Bernd Isele und das Schauspielerinnen-Team haben circa ein Drittel des Texts verwendet. Sie haben Schneisen geschlagen, den Text neu geordnet, ihn auch für ein weniger Jelinek-erfahrenes Publikum verständlich gemacht - und sie haben ihn auf drei Monologe für drei grandiose, exakt gleich gekleidete und frisierte Schauspielerinnen verteilt. Linn Reusse beginnt; der Schwerpunkt ihres Texts liegt auf den Themen der Steuerfahndung. Nicht ohne Witz zeigt sie die Betroffenheit und den Sarkasmus der Autorin und legt das Fundament für den Abend über Elfie und die Schmerzen der Bürokratie, über staatliche und sprachliche Gewalt. Der Monolog von Fritzi Haberlandt konzentriert sich vor allem auf die Familiengeschichte während und kurz nach der Nazi-Zeit und wirft Schlaglichter auf die Täter und Opfer. Vielleicht ist dies der eingängigste Teil des Textes; sicher aber ist es einer der schauspielerischen Höhepunkte des Abends, wie Haberlandt spottet, witzelt, wütet, in Sekundenschnelle die Diktion wechselt und mit großer Fröhlichkeit die schlimmsten Zynismen über die Rampe bringt. Die atemberaubende Jelinek’sche Sprachakrobatik treibt Haberlandt auf die Spitze. Etwas ernster, bitterer wirkt der Teil, den Susanne Wolff vorträgt - sie gibt die Aktivistin, die politische Denkerin. In einem vierten Teil schließlich sind alle drei Schauspielerinnen gemeinsam auf der Bühne und improvisieren ein großartiges Wortkonzert. Virtuosität ist ein zu schwaches Wort für das, was diese drei Schauspielerinnen - jede für sich in ihrem Monolog und alle gemeinsam in ihrer Schluss-Improvisation - leisten. Während Jossi Wieler im Vergleich zu vielen anderen (auch von ihm selbst verantworteten) Jelinek-Aufführungen eher mit kargen Regie-Mitteln arbeitet, ist ihre Performance ein einsamer schauspielerischer Höhepunkt der Spielzeit.
Nach 140 höchst anregenden, rasanten und unterhaltsamen Minuten schweigt Jelinek dann doch. „Ich gratuliere Ihnen. Sie haben’s hinter sich“, heißt es noch. Alle gehen nacheinander ab - auch die Souffleuse, die die ganze Zeit über auf der Bühne gesessen hat. Nur Bernd Moss, der verstorbene Ehemann, bleibt an seinem Tisch sitzen. Nach 48 Ehejahren sitzt er sicher auch noch in Elfies Kopf. Irgendwie hat Jelinek, wie das Team in der anschließenden Diskussion betont, auch eine versteckte Liebesgeschichte geschrieben.