Übrigens …

Johanna ist tot im Neuss, Rheinisches Landestheater

Das Landei will die Demokratie retten

Lechts und rinks kann man nicht velwechsern, würde Ernst Jandl sagen. Zweigeteilter war eine Bühne selten: Rechts steht ein etwas naiv gezeichneter Baum für Wald, Feld und Natur, also für die Heimat von Johanna, und links befindet sich die Machtzentrale des neuen Kanzlers. Franz Gaul bewohnt ein Büro, das einheitlich in düsterer, abweisender, schwerer „Eiche brutal“ ausgestattet ist. Zum blauen Business-Anzug trägt Stefan Schleue als Gaul eine Allonge-Perücke; auch Nelly Politt als seine Tochter Viktoria hat ein barockes Haar-Ungetüm auf dem Kopf. So wird die reaktionäre Gesinnung des Kanzlers gleich deutlich; die Restauration lässt grüßen. Viktorias leuchtend blaue, hautenge Lack-Hose soll der kommenden Diktatur wohl nur einen etwas moderneren Anstrich geben.

Überdeutlich weist das Bühnenbild auch auf die etwas unbedarfte Sozialisation von Johanna Ark hin. Ein „Landei, aber kein dummes Mädchen" sei sie, behauptet die in ihrer Selbstbeschreibung. Da tritt sie zur Abwechslung mal wieder wie ein halbwegs normales braves junges Mädchen auf. Aber ein bisschen plemplem ist sie schon - man muss ihr nur mal zuhören, wenn sie von den Stimmen, Intuitionen oder sonstigen Wundern spricht, die sie zur Erleuchteten erheben. „Die Weste fand mich im Wald“, behauptet sie mit heiligem Ernst, als sie ihr weiches, aber optisch einer Rüstung ähnelndes Wams überzieht. Da war die Weste vermutlich gerade auf der Suche nach der der freiheitlich-demokratischen Grundordnung, die sich unter Herrn Gaul in die finsteren Wälder verkriechen musste. Aber ohne Flachs: Ernst ist Johannas vorherrschender Charakterzug; so etwas wie Humor hat sie nicht in ihrem Verhaltens-Repertoire. Wenn sie von den Stimmen spricht, die ihr ihre Weisheiten eingeben (oder wenn diese Stimmen aus ihr selber sprechen), legt sie ein so altmodisches Pathos in ihre Sprache, dass man bei Mangel an Alternativen sogar lieber dem unseriösen Geschwafel des rechtsradikalen Hallodris Franz Gaul sein Ohr leiht. Johannas Papa meint jedenfalls, seine Tochter müsse mal wieder zum Arzt, und man ist geneigt, ihm recht zu geben.

Fenna Benetz legt die Rolle extrem jung an - die Radikalinskis der „Letzten Generation“ oder die Klima-Aktivistin Greta Thunberg wirken ja auch nicht älter, und selbst Jeanne d‘Arc, an der sich die Rollengestaltung orientiert, war erst 17, als sie von Domrémy aus in die Schlacht zog. Dass die Neusser Johanna, wie sie behauptet, gegen eine Nazi-Partei die Demokratie zurückbringen kann, glaubt kein Mensch. Auch das hat sie ja mit ihrem historischen Vorbild gemeinsam. Doch der Stolz, der aus Johannas Worten sprechen soll, wirkt (anders bei Schillers „Jungfrau von Orléans“) einfach nur ein bisschen lächerlich.

Fundamentalistisch sind jedenfalls beide, Kanzler und Jungfrau. Gaul redet wie von heute und denkt wie von vorgestern - wie Deutschlands Führer in den tausend Jahren, die glücklicherweise nur zwölf währten. Der Führer soll zwar immer bis mittags gepennt haben, war dann aber vermutlich etwas disziplinierter als Neonazi Gaul, den sein Kaffee und sein Frühstücks-Ei mehr zu interessieren scheinen als sein politisches Programm. Das allerdings hat es in sich: Fremdenfeindlichkeit und Schwulenhass sind selbstverständlich; er regiert durch Korruption und Erpressung; politische Gegner lässt er einfach „bei einem tragischen Unfall“ verschwinden. Die Höckes dieser Welt sind lupenreine Diplomaten dagegen, und tatsächlich ist Gaul schon weiter als die ihm nahestehende AfD in Deutschland. Er wendet Methoden an wie sie schon George Orwell in „1984“ beschrieb. Gaul denkt zwar wie von vorgestern, aber er verbietet das Gestern: die Erinnerung an Meinungsfreiheit und Demokratie. Die Cancel Culture vieler heutiger Ideologen dürfte er also begrüßen. Die Menschen bekommen eine VR-Brille verpasst, mit der sie die alternativen Realitäten so sehen wie der Führer und Kanzler es will, und wenn sie immer noch Widerstand leisten, ernennt man sie zum Lohn für ihren Mut zu Gladiatoren. Dass die bei den entsprechenden Kämpfen zerfleischt werden, versteht sich von selbst.

Zwischen der erleuchteten Johanna und dem nationalistischen Diktator Gaul gibt es in Garofalos Stück auch noch die Menschen der Mitte: Johannas Eltern zum Beispiel, deren Kleidung sie vermutlich in der Papierfabrik gefunden hat. Sie tragen schwarz-weiße (!) zweidimensionale Styropor-Kostüme vor dem Leib, Ausdruck für die mangelnde Mehrdimensionalität ihres Denkens. (Ohnehin sind die phantasievollen, witzig-ironischen Kostüme von Isabel Graf echte Highlights in Susi Webers Uraufführungs-Inszenierung.) Auf intellektuell höherer Ebene als Katharina und Michael stehen Carl Philippe und Elise. Carl Philippe ist jedoch vor lauter Frust und Resignation dem Alkohol verfallen; Elise (ebenfalls verkörpert durch Nelly Politt) vertritt lange und vehement die Position der Mitte. Sie ist überzeugt, dass man die Demokratie nur mit friedlichen Mitteln retten könne, und als sie spürt, dass dieser Weg gegen das Regime von Kanzler Gaul zum Scheitern verurteilt ist, sucht sie vergebens einen Mittelweg zwischen Kampf und dem Rückzug ins Private. Und doch ist es sicher kein Zufall, dass ausgerechnet sie es am Ende ist, die den Kanzler erledigt.

Alle Schauspielerinnen und Schauspieler mit Ausnahme von Fenna Benetz als Johanna haben Doppelrollen und stehen in der einen auf der Seite der Diktatur, in der anderen auf der Seite des - inneren oder aktiven - Widerstands. Sie meistern diesen Spagat gut. Vor allem Nelly Politt, Stefan Schleue (nicht nur Kanzler, sondern auch Johannas Vater Michael), und Peter Waros als recht origineller Assistent und Unterstützer des Diktators und als einzelgängerischer Widerständler Georg bleiben im Gedächtnis. Wohl jede Darstellerin einer zeitgenössischen Johanna-Figur hätte es schwer, gleichzeitig als naives Landei, als Retterin der Demokratie und als völlig humorlose Erleuchtete zu überzeugen. Die dazu notwendige Distanz zur Figur findet die Neusser Aufführung nicht. Garofalos Stück selbst ist allzu durchschaubar, um als anspruchsvolles Erwachsenen-Theater durchzugehen. Es ist in seinen Aussagen überdeutlich und birgt keine Geheimnisse; auch seine zahlreichen humorvollen und satirischen Passagen erscheinen verhältnismäßig einfach gestrickt. Diesem Muster folgt die Inszenierung unkritisch. Heraus kommt kein großartiges dramatisches Kunstwerk, aber durchaus unterhaltsames, auch für theaterferne Jugendliche konsumierbares politisches Theater. Für ein Reise-Theater wie das Rheinische Landestheater Neuss, das viel in Gastspiel-Orten in der Provinz mit einem zu großen Teilen theaterunerfahrenen Publikum unterwegs ist, ist das vielleicht keine schlechte Lösung.