Übrigens …

Shakespeare’s Villains - Steeped in Blood - Two Heads and a Hand im Globe Theatre Neuss

Blutgetränkte Schurken

Die meisten Zuschauer des jährlich stattfindenden Neusser Shakespeare Festivals sind vergnügungssüchtig. Wenn sich die Londoner Handlebards ansagen, die Jahr für Jahr eine neue rasante, slapstickartige und von derbem Humor durchzogene Trash-Show entwickeln, ist das Theater binnen weniger Minuten ausverkauft, und das Kreischen des Publikums weht über die morbide ehemalige Pferderennbahn im Neusser Osten als wäre man an der Achterbahn der Sterkrader Fronleichnamskirmes. Die bremer shakespeares company mit ihren oft im Volkstheater-Stil gehaltenen Aufführungen gehört zu den Publikums-Lieblingen in Neuss; wer an Karten kommen möchte, muss sich ranhalten. Das passt zu dem Wohlfühl-Ambiente des Außen-Geländes, das jedes Jahr liebevoll gestaltet wird, Möglichkeiten zum Picknick bietet und eine Hommage an die englische Lebensart darstellt. Politisch relevante, regimekritische Aufführungen wie wir sie in den Vor-Corona-Jahren vor allem aus Osteuropa sahen oder Aufführungen mit einer dem hiesigen Publikum fremden Theater-Ästhetik bereichern das Programm ganz wesentlich, finden aber leider oft nur Anklang bei wenigen Connaisseuren, deren Zahl nicht immer ausreicht, um das dreistöckige Rund zu füllen. Sie sind aber häufig die wahren Perlen im Festivalprogramm.

 

Maja Delinic, seit 2022 neue Intendantin des Festivals, schreibt alte Vergnügungs-Traditionen fort, zeigt aber auch den Ehrgeiz, das Publikum mit unterschiedlichen internationalen Theaterhandschriften zu konfrontieren. Sie ködert mit besonderen Angeboten. Durch Ticketpakete schafft sie Bezüge zwischen thematisch sich aufeinander beziehenden Aufführungen; ein „Binge Watching“ von vier ästhetisch vollkommen unterschiedlichen, jeweils circa einstündigen Aufführungen aus unterschiedlichen Regionen dieser Welt an einem Nachmittag und Abend gab in diesem Jahr Gelegenheit, binnen eines halben Tages durch den abwechslungsreichen Kontinent Shakespeare zu reisen. Der Schreiber dieser Zeilen stellte sich sein eigenes Binge Watching zusammen und war hochzufrieden:

 

 

 

Böse sei der Held, blutrünstig und intrigant: Shakespeare’s Villains

 

 

 

Was gibt es nicht alles für unterschiedliche Kategorien von Schurken, fragt Philipp Alfons Heitmann in seiner bereits im vergangenen Jahr beim Neusser Festival zur Premiere gekommenen Interpretation von Steven Berkoffs Monolog über „Shakespeare’s Villains“. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit zählt er auf: geniale und dumme Schurken, traurige und fröhliche, raffinierte und höchst durchschnittliche, mediokre Schurken. Heitmann führt sie alle vor, die Shakespeare’schen Bösewichter. Jago gehöre doch eher zu den mediokren Intriganten, meint er – allzu viel Erfolg hat der am Ende ja tatsächlich nicht. Aber, so weiß der Schauspieler, gerade die Mischung aus Mittelmaß und Bösartigkeit ist besonders gefährlich. Dass die dummen Schurken schlimmer seien als die Intelligenten, dachte der Schreiber dieser Zeilen bei den Auftritten von Donald Trump auch immer, bis Putin, den man eigentlich für intelligenter hielt, die Keule auspackte. Aber auch der stellt sich ja ziemlich dämlich an.

 

Der Genosse Vladimir könnte vielleicht ein Wiedergänger von Richard III. sein – Männer, komplexbeladen wegen eines Buckels (Dirty Rich der Dritte) oder wegen der Schrumpfung eines früheren zwar wirtschaftlich mediokren, aber geographisch eindrucksvollen Weltreichs (Zar Vladimir der Erste). Berkoff aber bezeichnet Richard als den „Picasso unter den großen Schurken der Geschichte“ - nun ja, er hat tatsächlich große Kunstfertigkeit bei der Planung seiner Missetaten unter Beweis gestellt und ist sicher eine der am eindrucksvollsten ausgemalten Gestalten unter Shakespeares Bösewichtern. Einen herausragenden Platz unter den großen Schurken nimmt natürlich Macbeth ein, der am Anfang noch so etwas wie Liebe in sich trägt, bis seine Gattin ihn mit den Worten „unsex me here“ jedes Gefühls, jeder Liebe, jedes Sexlebens beraubt. Shylock zählt zur problematischen Kategorie der "aus wirtschaftlicher Ausgrenzung oder rassistischer bzw. religiöser Diskriminierung“ durch die Gesellschaft zu Bösewichtern gemachten Figuren; Oberon mit seinen schmutzigen Sex-Phantasien, Coriolan und seine dominante, besitzergreifende, überehrgeizige Mutter Volumnia werden genannt, ja, und nicht zuletzt zählt zu Berkoffs respektive Heitmanns Schurken ein bemitleidenswerter, schüchterner und zögerlicher junger Mann, der sich binnen einer Zeitspanne von nur sechs Monaten in einen Serienmörder verwandelt: Hamlet, der Prinz von Dänemark.

 

Steven Berkoff bezeichnet den Stoff seiner Show als „Masterclass in Evil“. Philipp Alfons Heitmann spielt sich in einen Rausch: Immer plastischer wird sein Vortrag, immer gruseliger, dramatischer – und oft auch ironischer. Heitmann erklärt, fabuliert, schlüpft in Sekundenschnelle von einer Rolle in die andere. Er zelebriert das ironische Pathos ebenso wie den boulevardesken Witz, flirtet mit dem Publikum, gibt den Bösartigen wie den Gerissenen witzig, spannend, lustvoll überzogen und oft überraschend in der Analyse. Fasziniert folgt man seinen Verwandlungskünsten und genießt eine kleine, höchst eigenwillige Hommage an den großen Meister der Dramenkunst. Da möchten scheinbar selbst Polizei und Rettungsdienste mitspielen: Während Hamlet gerade umständlich Polonius zu erstechen versucht, rast zufällig draußen auf der Straße unter Sirenengeheul ein Polizei- oder Rettungswagen heran. Alltag in Neuss, Festtag im Globe: Shakespeares Schurke wird noch einmal davonkommen.

 

 

 

Am Ende steht das United Kingdom: Giles Abbott erzählt von „Macbeth“

 

 

 

Nach dem Erfolg im Vorjahr, als er mit spannenden und humorvollen Geschichten über reale und volksmärchenhafte Hintergründe von Shakespeares Dramen überzeugte („Shakespeare’s Back Stories“), hat das Team von Intendantin Maja Delinic den britischen Storyteller und Performer Giles Abbott in diesem Jahr gebeten, die Geschichte vom Aufstieg und Fall von Macbeth zu erzählen. Die charismatische Art und Weise, mit der Abbott, der „einzige blinde britische Storyteller“ (während seines Studiums in Oxford verlor er fast seine gesamte Sehkraft), seine Geschichten zum Leben erweckt, vermag auch Menschen, die für die dramatische Literatur wenig empfänglich sind, die Augen für die Schönheit, den Spannungsgehalt und die Skurrilität Shakespeare’scher Abenteuergeschichten zu öffnen.

 

Macbeth - das sei doch die Geschichte von dem König, der drei Frauen trifft und die eine lieber hat als die anderen, und als er sein Königreich aufteilen will... – ups, und schon hat Abbott sich verstrickt. Er wirft zu Beginn seiner Performance gleich mehrere Shakespeare-Dramen durcheinander. Aber so falsch ist das nicht, denkt er: Denn die Welt ist in Unordnung, damals wie heute: Fair is foul and foul is fair.

 

Und dann erzählt er von Schottland zur Zeit König Duncans, von den Bedrohungen des Reichs durch die Norweger, von politischen Umsturzversuchen und Schlachten - und von den Hexen, die Macbeth "upon the heath" getroffen zu haben glaubt und die Abbott komödiantisch als alte zickige Waschweiber karikiert. Man sieht den Thane of Glamis, als der Macbeth ja beim ersten Mal noch vor die Hexen tritt, plastisch vor sich, wenn Abbott ihn beschreibt: als Archetypen eines schottischen Soldaten, oben mit breiten Schultern, unten mit Kilt um die Knie. Langsam groovt Abbott sich ein in Shakespeares Drama, berichtet von Korruption, lässt Nebenfiguren auflaufen, von denen man in Shakespeare-Inszenierungen selten hört, korrigiert, interpretiert das eine oder andere neu - und kommt immer wieder zurück auf die Unordnung der damaligen und der heutigen Welt: "Fair is foul, and foul is fair." Ab und an flicht er Original-Zitate in seinen Vortrag ein, ansonsten erzählt er mal poetisch, mal ironisch, mal monströs und immer plastisch die Geschichte nach, hin und her springend zwischen moderner Sprache und klassischer Diktion. Macbeth „has business to do in Inverness“, aber seine Frau hat es satt, wie "full of the milk of human kindness" und damit also feige ihr Gatte ist. Macbeth full of human kindness? - „Steeped in Blood“ dürfte er schon aufgrund seiner erfolgreichen soldatischen Vergangenheit sein. Abbott wundert sich und deutet die Gesten des wilden Kriegers an...

 

Im Feuerschein bei den drei Hexen sieht Macbeth eine lange Reihe von Königinnen und Königen, die alle die Züge von - Banquo tragen. Vielfältige Scharmützel stehen diesen zukünftigen Herrschern und Schlachtenlenkern bevor, doch am Ende der langen Reihe sieht Abbott das United Kingdom am Horizont erscheinen. Erstmal aber muss Banquo das Land vom Tyrannen befreien. Er stellt eine Armee aus Gefangenen auf. Prigoschin lässt grüßen.

 

 

 

Shakespeares Schurken-Rekord: Das Zoukak Theatre denkt über die Darstellung und Rezeption von Gewalt nach

 

 

 

Ein ganz besonders exquisites Schurkenstück hat sich die libanesische Zoukak Theatre Company aus Beirut ausgesucht. Maya Zbib ist Gründungsmitglied der Kompanie und steht bei „Two Heads and a Hand“ als Schauspielerin und Co-Regisseurin auf der Bühne. Im Rheinland ist sie längst kein unbeschriebenes Blatt mehr: Zuletzt hat sie an den Vereinigten Bühnen Krefeld Mönchengladbach Heiner Müllers Shakespeare-Überschreibung „Anatomie Titus Fall of Rome“ auf die Bühne gebracht (siehe http://theaterpur.net/theater/schauspiel/2022/02/moenchengladbach-anatomie-titus.html). Auch diese Inszenierung wurde beim diesjährigen Shakespeare Festival im Neusser Globe gezeigt. Zbibs erste Beschäftigung mit Shakespeares „Titus Andronicus“ fand aber bereits vor einigen Jahren in Beirut statt und war in einer fortentwickelten Version ebenfalls in Neuss zu sehen.

 

Titus Andronicus“ gilt als Shakespeares blutrünstigstes und grausamstes Stück – Splatter-Theater vom Ende des 16. Jahrhunderts. Die Zoukak Theatre Company greift nur einzelne Motive aus diesem Stück heraus für eine Inszenierung, die eher als metadramatisches Theater daherkommt. Sie erzählt zunächst von Gewalt: davon, wie man diese im Theater darstellen kann, wie man das Publikum adressieren oder wie man es im Gegenteil als unbeteiligten Beobachter außen vor lassen kann. Wie machen Kinder das: Augen zu, dann sehen mich die anderen nicht. Augen zu auf der Bühne und das Publikum nicht ansehen - dann wird das Publikum nicht berührt durch den furchtbaren Kreislauf der Gewalt, den es bei Shakespeares "Titus Andronicus" (oder auch seinem "Richard III.") auszuhalten gilt. Augen zu und nicht hinsehen - so, meinen wohl die drei Performerinnen und Performer, so gehen viele Beobachter mit der staatlichen und kriegerischen Gewalt um, die weite Teile unserer Welt nach wie vor beherrscht.

 

Bedarf es des eigenen Erlebens, um Tod und Gewalt auf der Bühne darstellen zu können? Omar Abi Azar hat nie jemanden sterben gesehen, sagt er. Aber den Tod eines Tieres hat er sicher bereits miterlebt? Eindrucksvoll, erschütternd kann er die Bewegungen eines bei der Schlachtung sterbenden Pferdes zeigen. Maya Zbib bedeckt ihm seine Augen…. – Später thematisiert das Schauspieler-Team die Zusammenhänge zwischen Aggression, Wut und Schmerz (zieht das eine das andere unweigerlich nach und verschmilzt es zu einem einzigen, ununterscheidbaren Gefühl?), und es diskutiert über die Darstellbarkeit von Grausamkeit und Gewalt aus der Sicht der Schauspieler und aus der Sicht der Zuschauer.

 

Vierzehn Morde, davon neun auf offener Bühne, neuneinhalb Liter Blut, vierundzwanzig Szenen, in denen gekotzt werde - das sei "Titus Andronicus", zählen die Schauspielerinnen und Schauspieler auf und spielen mit einfachen dramatischen Effekten, aber lustvollem Pathos zwei oder drei Szenen des Dramas aus. Kalaschnikows kommen ins Spiel, Autobomben auch; man hört über der Bühne Hubschrauber kreisen. Das Prinzip von Rache und Blutrache, das System der staatlichen Gewalt - sie wirken fort, unverändert seit Shakespeare, unverändert seit dem Alten Rom. Gewalt wirkt fort im Libanon, der heute einem "failed state" nahekommt, in Syrien, im Sudan, im Russland-Ukraine-Konflikt. Und vielleicht, etwas zivilisierter im Auftreten, ja auch bei uns. Jedenfalls schauen wir gerne weg.