Drive your Plow over the Bones of the Dead im Recklinghausen Ruhrfestspiele

Des gehetzten Wildes Schrei

Gesang der Fledermäuse lautet der deutsche Titel des Romans der Nobelpreisträgerin Olga Tokarczuk. Die Aufführung von Simon McBurneys Londoner Theaterkompanie Complicité, die zum Auftakt der diesjährigen Ruhrfestspiele in Recklinghausen gastierte, folgt eng der englischen Übersetzung des Romans, deren Titel ebenso wie der des polnischen Originals origineller wirkt und neugieriger macht: „Zieh deinen Pflug über die Knochen der Toten“. Eine solche Formulierung passt zu der Protagonistin des Romans, dieser verschrobenen alten Frau, die über einen köstlichen rauen, tiefschwarzen Humor verfügt. Die Worte aber stammen nicht von Janina Duszejko und nicht von deren Schöpferin Tokarczuk, sondern von William Blake, einem Londoner Naturmystiker, Maler und Dichter, der von 1757 bis 1827 lebte. Blake war von allerlei spirituellen und spiritistischen Gedanken beseelt. Verschroben sei auch der, fanden seine damaligen, in patriarchalischen und ethnozentrischen Weltbildern gefangenen Zeitgenossen, meinten damit aber vor allem seine Ansichten, die aus heutiger Sicht ziemlich modern anmuten, auch wenn er sie in seiner Lyrik in recht bizarre Sprachbilder verpackte: Blake glaubte doch tatsächlich an die Gleichheit der Rassen und Geschlechter und setzte sich für den Schutz von Flora und Fauna ein! - Alles in allem also ein kongeniales Vorbild für Janina Duszejko. Die ist eine Nonkonformistin wie sie im Buche steht, respektlos gegenüber Staat und Kirche und radikal in ihrem Kampf für die Natur und die Tierrechte. Gemeinsam mit ihrem ehemaligen Schüler Dyzio übersetzt sie Blake-Gedichte. Die Spiritualität findet sie in der Astrologie: Sie liest das Schicksal der Menschen in den Sternen.

Wenn nicht alles täuscht, teilt die Autorin Olga Tokarczuk Duszejkos Enthusiasmus für den britischen Mystiker. Jedenfalls ist nicht nur ihr Roman, sondern auch jedes Kapitel ihres Öko-Noir-Krimis mit einem Blake-Vers überschrieben. Auch im Fließtext wimmelt es nur so von krausen Zitaten und Übersetzungsversuchen aus den „Sprichwörtern der Hölle“ („The Marriage of Heaven and Hell“) und dem Gedicht „Auguries of the Innocence“: „Das Rotwild schleicht gemach umher / So wird des Menschen Herz nicht schwer.“ Doch das Rotwild wandert nicht mehr so zahlreich: „Des gehetzten Wildes Schrei / Reißt des Gehirnes Nerv entzwei.“ Jäger und Wilderer dezimieren in dem kleinen niederschlesischen Dorf an der tschechischen Grenze, in das sich Frau Duzejko zurückgezogen hat, den Tierbestand. Empörend für Duszejko, Alibi für die Waidmänner: Von der Kanzel predigt Pfarrer Raschel den Vorrang menschlicher Gelüste und Bedürfnisse vor dem Tierwohl. Duszejko leidet.

Und wird bald zu einer skurrilen, irgendwie auch maliziösen Detektivin. Denn es gibt Tote im Dorf. Bigfoot, der Wilderer, ist das erste Mordopfer: Ein kleines Rehbeinchen steckt in seinem Hals und hat ihn scheinbar ersticken lassen. Den Polizeichef - ebenfalls ein begeisterter Jäger, aber wenig enthusiastisch bei der Aufklärung von Straftaten gegen die Tierwelt - findet man ertrunken in einem Brunnen. Hufspuren von zahlreichen Rehen erwecken den Eindruck, als hätten die Tiere den Jäger in den Tod getrieben. Füchse und Scharlachkäfer scheinen weitere Morde auf dem Gewissen zu haben wie den des korrupten Oligarchen aus der Stadt, der unter anderem eine illegale Fuchsfarm und ein Bordell betreibt, des Präsidenten der Pilzsammler oder des geradezu militant auf die Hierarchie-Unterschiede zwischen Mensch und Tier pochenden Pfarrers. Das sind alles keine sympathischen Gestalten: Der Tod kann etwas Gutes sein, wie ein Desinfektionsmittel oder ein Staubsauger, ätzt Duszejko. Die ist nicht überrascht: Saturn, der Herrscher über Leben und Tod, stand für die Mordopfer im falschen Feld. Aber sie ist auch überzeugt: Die Tiere nehmen Rache an den Menschen. Blake würde sagen: „Das Pferd, an dem man Unrecht tut, / Ruft Himmel an um Menschenblut.“

Des gehetzten Wildes Schrei reißt auch in Duszejkos Gehirn die Nerven entzwei. Doch genug: Wer des Himmels Handlanger ist, ob Mensch oder Tier, wollen wir hier offenlassen. Zu feiern gibt es in Simon McBurneys Aufführung vor allem die kleinwüchsige Schauspielerin Kathryn Hunter, die die Janina gibt. Sie wird von allen anderen Schauspielerinnen und Schauspielern um mindestens einen Kopf überragt, ist spindeldürr und unbeugsam. Drei Stunden lang steht sie vorn an der Rampe und rezitiert Romantext, spielt kurze Dialog-Szenen, wütet und ätzt. Sie ist eine kongeniale Verkörperung der schrulligen Janina Duszejko mit ihrem harten Humor und ihrem zynischen Blick auf die unbelehrbare Welt, mit ihrem Kampf gegen das Alter und gegen chronische Gebrechen. Duszejko, die so mitleidlos gegen sich selbst und so empathisch gegenüber den Tieren ist, weiß, dass „Kummer ein wichtiges Wort bei der Definition der Welt war.“ Der Kummer wandelt sich gelegentlich in Wut, und es ist eine stete Balance zwischen Trauer, poetischen Momenten und Angriffslust, die Hunter bravourös bewältigt.

Dabei hat sie enorme Textmengen zu bewältigen. Längen bleiben an dem dreistündigen Abend nicht aus, denn obwohl acht weitere Schauspielerinnen und Schauspieler auf der Bühne stehen, bleiben sie manches Mal in der Rolle von Stichwortgebern. Das Bühnengeschehen bleibt meist illustrativ statt kommentierend. Choreographische Momente faszinieren manchmal: wenn die übrigen Akteure sich zu einem Rudel von Wildtieren zusammentun und im Hintergrund tanzen, wenn einzelne ihr Leid bei der Jagd performen. Nebenfiguren glänzen als Typen von ähnlich großer Skurrilität wie Duszejko: Zuallererst ist César Sarachu als unterprivilegierter Freund und Nachbar Oddball zu nennen, überzeugend ist auch Johannes Flaschberger als der massige Entomologe Boros. Wie stets bei McBurney spielen Licht-, Sound- und Video-Design eine große Rolle, wobei diesmal vor allem die großartigen Schwarz-Weiß-Videos von Dick Straker überzeugen, die zwischen geometrischen Formen und realen Bild-Animationen changieren: Aus Winterlandschaften und Schneeregen entstehen Wälder und Hochsitze und lösen sich wieder in geometrischen Linien auf, Uniformen schweben herab, die Tierkreiszeichen der Astrologie rotieren; manche Bilder erinnern kurzzeitig an Horror- oder Monsterfilme.

Hunters Text ist eine Anklage unserer Haltung zu Tieren; ihre Figur in ihrer langsamen Entwicklung in eine irrationale Radikalität nicht unproblematisch: Wie man mit Tieren umgehe, sage etwas aus über das Land, behauptet Duszejko; den Verzehr von Fleisch setzt sie mit Mord gleich, die Schlachtung bezeichnet sie als industrielles Töten. Agnieszka Hollands Verfilmung des Romans aus dem Jahre 2017 warf man (vor allem in Polen) einen Aufruf zum Öko-Terrorismus sowie Verunglimpfung der Kirche vor - eine allzu radikale Antwort auf einen radikalen Text. Aber tatsächlich verrennt sich Duszejko zunehmend. Im Dorf hält man sie für ein wenig verrückt. Auch ihr körperlicher Zustand verschlechtert sich. Ihre wenigen Freunde stehen ihr bei. Die Morde sind inzwischen mit einem für manche vielleicht überraschenden Ergebnis aufgeklärt. Vielleicht kommt dem einen oder der anderen das erste Blake-Zitat des Abends noch einmal in den Sinn: „Ernst, fromm und auf gefährlichem Pfad, / Hielt der Gerechte fest an seinem Weg / Durch das Tal des Todes.“