Anarchische Komödie mit ernstem Hintergrund
Jack Nicholson spielt auch mit. Ganz real und in Farbe: Als in der Psychiatrischen Klinik ein Neuzugang angekündigt wird, erscheint auf der Videowand die Eingangstür der Klinik aus Milos Formans oscargekröntem Film Einer flog über das Kuckucksnest, durch die mit seinem üblichen provozierenden Grinsen Formans ebenfalls mit dem Oscar ausgezeichneter Hauptdarsteller schreitet: Nicholson als McMurphy. Auf der Bühne tanzt derweil Jonas Sippel, nicht ganz so renommiert wie Nicholson und wie die meisten der Mitwirkenden an Leander Haußmanns Inszenierung am inklusiven Berliner RambaZamba Theater mit Trisomie-Diagnose - auch er in der Rolle des McMurphy. Der Mann verfügt über eine mehr als zehnjährige Theatererfahrung bei RambaZamba, und er weiß sich vom übermächtigen filmischen Vorbild zu emanzipieren.
Was übrigens für alle Schauspielerinnen und Schauspieler und die gesamte Inszenierung gilt: Die anarchische Truppe findet einen höchst eigenen Weg durch die Vorlage. Dennoch bleibt diese stets wiedererkennbar. Sicher kennen sich einige der Darsteller aus mit den Methoden einer Klinik für… ääh … ja, wie sagt man das heute noch, das Wort Geisteskranke darf man nicht mehr benutzen, Neuro… ääh, Psycho… ääh - der Stationsarzt gerät ins Stottern, wenn er nach der politisch korrekten Bezeichnung sucht. Matthias Mosbach gibt diesen Arzt und schart alsbald die Patientinnen und Patienten nebst der uns Älteren seit dem Jahr 1975 nicht mehr aus dem Gedächtnis weichenden Schwester Ratched im Stuhlkreis um sich. Er ist der einzige Normalo auf dieser Station (und der einzige Normalo unter den Schauspielern) - so betont er es zumindest wieder und wieder. „Du bist einer von uns“, fangen die Patientinnen und Patienten ihn immer wieder ein, und dann fängt er an zu toben. Tatsächlich hält Mosbachs Spiel eine Balance, die die Zuschauer nie sicher sein lässt, auf welche Seite der Kranken-Bilanz der Mann eigentlich gehört. Wie es scheint, trägt er unter seinem Arztkittel offenbar Anstaltskleidung…
Behutsam werden die Patienten mit ihren individuellen Ticks vorgestellt - vorgestellt in lustvollem Spiel, selbstverständlich niemals vorgeführt. Die Schauspielerinnen und Schauspieler entwickeln dabei unverwechselbare Identitäten und höchst individuelle Charaktere, wobei es erlaubt sei, aus dem großartigen Ensemble neben Jonas Sippel als McMurphy den scheinbar gehörlosen, stummen Bromden (so sein Film-Name) hervorzuheben: Christian Behrend steht lange Zeit stoisch, weitgehend unbeteiligt in der Ecke, gestützt auf einen langen Bodenwischer. Er tut nichts - und entwickelt dabei eine hammerstarke Bühnenpräsenz. McMurphy versucht ihn aufzuziehen wie eine mechanische Spielzeugfigur - Bromden bleibt regungslos. Aber es beschäftigt sich jemand mit ihm; er fasst Vertrauen zu McMurphy und spricht schließlich mit ihm - das ist eine der berührendsten Szenen des Films ebenso wie der Haußmannschen Inszenierung.
Haußmann arbeitet auf vielerlei Ebenen: mit inklusivem Schauspiel, original Forman-Film-Einspielungen, kurzen Lesungen aus Ken Keseys dem Film und der Theaterfassung zugrundeliegenden Roman und der großartigen, kommentierenden Musik der "gespenster", die meist harmonisch, beruhigend oder affirmativ daherkommt, in den Momenten inneren Aufruhrs aber auch schrill und kakophonisch werden kann. Das geht dank des spielfreudigen Ensembles auf geniale Weise auf. Der Höhepunkt der Inszenierung ist jedoch der kleine Film, den Haußmann mit den Akteuren gedreht hat und den er wie Alfred Hitchcock durch einen eigenen Auftritt signiert hat: als mafiöser Zuhälter, dem die Ausbrecher aus der gefängnisartigen Klinik kurzerhand und fröhlich das Auto klauen. Sie brechen nicht nur aus ihrem eingeschränkten Leben in der Klinik aus, sondern sie zeigen den Zuschauern auch den Lustgewinn eines Ausbruchs aus dem eigenen Alltag. Am Prenzlauer Berg geht es zum Shopping und zum Kuchenbuffet; ein paar nette junge Damen werden ins Zuhälter-Auto geladen, Obdachlose mit einem Paket versorgt, das nicht nur Essen und Trinken, sondern vor allem Durchfall-Mittel enthält - und am Ende taucht man gut beschwipst und herrlich animiert wieder in der Klinik auf: sprich in der Kulturbrauerei, in der das RambaZamba Theater arbeitet, wenn seine Protagonisten nicht gerade zu einer Spritztour nach Recklinghausen ausgebrochen sind. Das ist hinreißend, lustig, anarchisch – und ein wahres komödiantisches Feuerwerk.
Doch so lustig und lustvoll die Inszenierung auch über die Rampe kommt, so mangelt es ihr keineswegs an gesellschaftskritischen Momenten. Die autoritären Methoden wie die Elektroschocktherapie - mag sie auch heute in realen Klinken kaum noch angewandt werden und kommt sie im Haußmanns Inszenierung auch eher wie ein Rettungsanker für das überforderte Personal und nicht als Therapie für die Patienten rüber - deuten auf (vielleicht auch gesamtgesellschaftlich gemeinte) Bevormundung, auf Machtmissbrauch und die Anwendung medizinisch inadäquater Methoden zur Ruhigstellung hin, zumal sie ähnlich fatale Auswirkungen hat wie in den 48 Jahre alten Film. Wenn der Arzt zu Beginn das Wort an die Investorinnen und Investoren im Publikum richtet und den geringen Personalaufwand in seiner Klinik anpreist, so ist das ein deutlicher Hinweis auf die aktuellen Missstände im Gesundheitssystem und im Krankenhaus-Management. Und wenn einer der Patienten, der im Verdacht der Homosexualität steht, aufbegehrt mit den Worten: „Ich bin nicht schwul. Ich bin Christ“, lacht man kurz auf - und erkennt die Kritik an den reaktionären Denkweisen mancher Kirchenleute. Christian Behrend, dem Mann, den wir für taubstumm hielten, gehören die letzten Sätze. „Wir haben Zahnräder in unseren Bäuchen, Gehirne aus Stein“, sagt er, und erzählt von den Menschen, die achtzehn Stockwerke unter der Erde leben und von einem mächtigen Konzern nach Bedarf an- oder ausgeschaltet werden. Da sind wir, wenn nicht alles täuscht, schon wieder in einem anderen Film, knapp fünfzig Jahre älter als Milos Formans „Kuckucksnest“. Fritz Langs „Metropolis“ scheint ähnlich aktuell.