Übrigens …

And now Hanau im Ruhrfestspiele Recklinghausen

Eine Kette von Fehlern und Versäumnissen

30 Jahre Solingen, fast 20 Jahre Keupstraße, 3 Jahre Hanau - "Es hört nicht auf!", wiederholen die vier Schauspielerinnen und Schauspieler. Es hört nicht auf mit den rechtsradikalen Anschlägen in Deutschland, und es hört nicht auf mit dem Leid der Opfer-Angehörigen. Zahlreiche Angehörige der Mordopfer von Hanau wohnten der Uraufführung von Tugsal Moguls Wut- und Gedenktext And now Hanau bei. Am Ende flossen Tränen. Es war der intensivste Moment eines aufrüttelnden Abends, als sich die Angehörigen nach dem Schlussapplaus umarmten, gerührt, noch einmal aufgewühlt von der Schilderung der Ereignisse, bei denen sie ihre Liebsten verloren. „Sie haben immer noch Angst“, heißt es auch. Und damit sind nicht nur die Angehörigen gemeint, sondern viele Menschen mit „fremden Namen“, die allein aufgrund ihres Aussehens und ihres Namens den Hass fremdenfeindlicher Kreise auf sich ziehen. Dabei waren zahlreiche Opfer der Anschlagsserie von Hanau deutsche Staatsbürger respektive seit mehreren Generationen in Deutschland ansässig.

Die Uraufführung von Moguls Text fand im Großen Ratssaal in Recklinghausen statt, im angeblich schönsten Rathaus Nordrhein-Westfalens. Das Rathaus ist ein herrliches Bauwerk im Stil der Neorenaissance. Gleichzeitig mag es als klassisches Beispiel für die Repräsentation staatlicher Macht dienen. Bei der Hanauer Verbrechensserie und deren Aufklärung hat die staatliche Macht in einer Vielzahl von Fällen versagt. Minutiös schildern Regisseur Tugsal Mogul und sein Team die Anschläge vom 19. Februar 2020 - beginnend mit der wenige Stunden vor der Mordserie ausgestrahlten Ausgabe der Tagesschau, die über den Gesetzentwurf zur Verschärfung der Strafen für Aufrufe zu Hass und Rassismus berichtet. Ausdrücklich betont das Team, die Geschehnisse aus der Sicht der Opferangehörigen erzählen zu wollen – aus radikal subjektiver Perspektive also. Das verleiht der Aufführung große emotionale Wucht. Die Wut und die Verletzungen der Angehörigen durch den Umgang mit der Tat und ihrem Leid werden deutlich und rufen beim unbeteiligten Zuschauer Scham hervor. Denn so subjektiv die Haltung dieses als Dokumentartheater daherkommenden Textes auch ist, so erschreckend ist es gleichzeitig, wie viele empörende Fehler und Versäumnisse von Polizei und Behörden auf der Basis der Erkenntnisse der Rechercheagentur „Forensic Architecture / Forensis“ aufgedeckt und mittels vor dem Ratssaal ausliegendem Material auch schriftlich dokumentiert werden. Das beginnt mit der Frage, warum Tobias R., der Täter, eigentlich im Besitz von Waffen sein konnte: Nicht nur seine rechtsradikale Gesinnung war bekannt, auch nachhaltige psychische Störungen, die bereits zu Klinikaufenthalten geführt hatten, waren bei dem wegen Gewalttätigkeit polizeibekannten, im Internet mit Verschwörungstheorien auffallenden Täter aktenkundig.

Krasser erscheinen Versäumnisse während des Polizeieinsatzes: Da steigt ein Polizeihubschrauber auf, um die elterliche Wohnung, in der der Täter lebt, zu sichern und den Täter gegebenfalls zu verfolgen. Doch irrt der Hubschrauber ziellos umher, weil die Funkverbindung zur polizeilichen Einsatzstelle abbricht oder aus unerfindlichen Gründen vom Boden aus nicht mehr bedient wird. Der Täter aber verschanzt sich nach seiner Tat noch stundenlang im Haus, das nicht adäquat bewacht wird. - Fassungslos macht auch eine andere Geschichte: Da verfolgt das spätere Opfer Vili Viorel Paun das Täter-Auto und versucht mehrfach, den Polizeinotruf 110 zu erreichen – doch dort meldet sich niemand, weil die Notrufstelle unterbesetzt ist. Paun ist ein Mann, der Verantwortung übernehmen wollte, anders als später viele Politiker und Behördenvertreter – und der dafür sterben musste. Gute Überlebenschancen hätten auch die in der „Arena Bar“ erschossenen Opfer gehabt, wenn nicht regelwidrig deren Notausgang verschlossen gewesen wäre. Die Aufführung insinuiert, dass dies mit den regelmäßig in der Bar stattfindenden Razzien zu tun haben könnte, und die Behörden die Fluchtmöglichkeit durch den Notausgang bewusst unterbinden wollten.

Auch der Umgang mit den Opfer-Angehörigen ließ vielfach an Sensibilität und Empathie zu wünschen übrig – oder war schlicht fehlerhaft, als das SEK in Verkennung der Tatsachen schwer bewaffnet das Fahrzeug einer Angehörigen-Gruppe umstellt. Die Aufführung spricht von institutionellem Rassismus, aber eine Nummer kleiner tut’s auch: In den Aussagen und im Handeln mancher Individuen bis hin zu Politikern spiegelt sich die mangelnde Sensibilität für den allgegenwärtigen Alltagsrassismus, der sich auch in der genutzten Sprache äußert. Alaaeldin Dyab und Agnes Lampkin vom Theater Münster sowie Regina Leenders und Tim Weckenbrock vom Theater Oberhausen zählen noch zahlreiche weitere Versäumnisse der Behörden bei der Verfolgung des Täters und der späteren Aufklärung der Taten auf. Sie interessiert die Recherche, das Aufdecken von Fehlern, die Arbeit gegen das Vergessen. Dazu gehört auch die Individualisierung der Opfer – Rassismus und Fremdenfeindlichkeit richtet sich fast immer gegen Gruppen, nicht gegen Individuen. Ein Individuum ist es, das am Anfang einmal den Versuch unternimmt, das Stück auch literarisch zu grundieren: Im Video wird von einem Mitbürger mit Migrationshintergrund in Anlehnung an den Auftritt von Shylock in Shakespeares „Kaufmann von Venedig“ gefragt: „Haben wir keine Augen…, werden wir nicht von den gleichen Krankheiten gequält…?“ -

Die radikale Subjektivität ist die Stärke und die Schwäche der Aufführung gleichzeitig, denn so steht die Empörung über krasse Fehler beim Polizeieinsatz oder bei der Aufklärung gleichberechtigt neben eher lässlichen Versäumnissen oder gar Klagen der Angehörigen über einen für sie nicht nachvollziehbaren, aber möglicherweise sinnvollen Pragmatismus. Selbstverständlich möchten Angehörige eine lückenlose und vollständige Befragung von Zeugen, aber ebenso selbstverständlich ist zu akzeptieren, dass aus Gründen der Prozessökonomie die Aufklärung abgebrochen wird, wenn ein Sachverhalt ausermittelt scheint. Nur: Schlampig darf die Ermittlung nicht sein. Und da macht sich die Aufführung verdient, indem sie aufzeigt, wie überfordert offenbar viele mit dem Fall befasste Behörden waren. Und wie gern man den einen oder anderen Sachverhalt unter den Tisch kehren wollte? Zumindest bleiben große Zweifel. Die Politik reagiert wie sie immer reagiert: Fehler werden erst nach langer Zeit zugegeben, wenn sie endgültig nicht mehr ignoriert werden können. So verspielt die Politik ihre Glaubwürdigkeit.

Neun Personen habe der Täter auf seinem Amok-Trip erschossen, heißt es immer wieder. Tatsächlich starben neun Personen mit Migrationshintergrund, aber die Anschlagsserie kostete elf Menschenleben. Der Täter erschoss auch seine kranke Mutter und sich selbst. Wie so oft werden die toten Angehörigen des Täters vergessen; häufig wird ihnen ja auch offen oder verdeckt eine Teilschuld am Missraten des Täters gegeben. Aber auch sie sind Opfer, wie auch der sich selbst richtende Täter - und auch sie haben Angehörige, die sie liebten und die um sie trauern. Einen Sohn, der zum Mörder wird, hat sich niemand gewünscht, auch wenn offenbar der Vater des Täters ebenfalls zu den rechten Verschwörungstheoretikern zählte. Gedenken wir also der elf Opfer der Anschlagsserie: Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtovic, Vili Viorel Paun, Fatih Saraçoglu, Kaloyan Velkov, des jungen Mannes, dessen Namen man im Internet nachlesen kann, dessen Familie aber darum gebeten hat, im Rahmen der Aufführung nicht genannt zu werden – und der Mutter des Täters. Und - auch wenn es schwerfällt - des fehlgeleiteten, von irrationalem Hass auf ihm unbekannte Menschen erfüllten Täters, der vermutlich nicht grundlos in psychiatrischer Behandlung war. Auch das ist ein Fehler von Behörden: die exorbitante Gefährlichkeit dieses Menschen nicht erkannt zu haben.