Übrigens …

Dunkeldorf im Düsseldorf, 34Ost

Stimmen in einer Stadt, die schweigt

Zweihundert Menschen versammeln sich in der frisch geweißten Spielstätte 34OST nahe dem Wehrhahn. Zwischen Kauf- und Parkhäusern betritt man durch eine sich automatisch öffnende Schiebetür einen langgezogenen Raum: vorne links die Kasse, daneben eine kleine Bar, ganz am anderen Ende des Raumes weiße Stufen, auf denen wir später Platz nehmen werden. Das Ganze war bis vor kurzem ein großer Elektroladen, der jetzt dem asphalt Festivalals Spielort überlassen wurde. Entsprechend ist zur Straßenseite die Wand aus Glas, die ehemaligen Schaufenster. Dort spielen Passanten und Straßenverkehr ganz ungefragt als Kulisse mit.

Christof Seeger-Zurmühlen, der für Konzept und Regie des Theaterabends verantwortlich zeichnet, gibt mal kurz den Platzanweiser. Nun von unseren Sitzen aus wird klar, dass der lange, scheinbar leere Raum die Bühne ist, die durch quer über den Boden gezogene Leuchtstoffröhren in fünf Flächen unterteilt ist. Rechts hinten ist eine Kammer abgeteilt, deren Wände beklebt sind mit Zeitungsausschnitten zum Thema des Stücks.

Im Raum verteilt, hängen sieben Bildschirme, auf denen mal Straßenszenen, mal Bilder vom Tatort damals und heute, später dann auch Projektionen der Live-Kamera abgespielt werden. Aus dem Off rauscht dumpf musikalische Untermalung, die das ganze Stück begleiten wird - komponiert von Bojan Vuletic (gemeinsam mit Christof Seeger-Zurmühlen Gründer und Leiter des asphalt Festivals, seit elf Jahren „Sommer der Künste“ in Düsseldorf.)

Vier Gestalten treten auf, jede besetzt eines der Spielfelder, schaut raus auf die Straße.

Bibi im grünen Trenchcoat (eindrucksstark: Azize Flittner), eine jüdische Sozialarbeiterin, beginnt stichwortartig das Geschehen zu schildern: „Düsseldorf. S-Bahnhof Wehrhahn. 15:03 Uhr. Ein heftiger Knall durch die Stadt. Menschen orientierungslos, auf dem Boden, blutverschmiert aus der Unterführung. Rufen. Weinen. Schreien. Stille.“

Cathi, eine Orts-Journalistin (engagiert und überzeugend: Julia Dillmann), zitiert das „Nationale Infotelefon“ der Rechten mit „Bombenstimmung in Düsseldorf“. Sie recherchiert schon länger im rassistischen und antisemitischen Umfeld und richtet ihren Verdacht gleich in diese Richtung.

Hund, Aktivist der Antifa, Journalist der linken Szene, sich selbst als „Passant der ersten Stunde“ bezeichnend (temperamentvoll, engagiert: Daniel Fries), ist sich ganz sicher, dass der Täter ein „Naziwahnsinniger“ ist, der da rum läuft und Leute in die Luft sprengt, während sie der Staatsschutz verharmlosend für ungefährliche „Jungs von nebenan“ hält. Er regt sich auf über die fahrlässig lasche Ermittlungsarbeit, springt zwischendurch auch mal aufs Fahrrad, dreht ein paar Runden auf der Bühne, dann auch auf dem Gehweg, schimpft von draußen nach drinnen und ist sich ganz sicher, den Täter zu kennen, nämlich den Ralph S., der sich selbst „Sheriff von Flingern“ nennt. Er betreibt einen Wehrsportladen gar nicht weit vom Tatort, läuft des Öfteren in einem Kampfanzug durch das Viertel und brüllt: „Undeutsche raus! Deutschland muss wieder Deutschland sein!“ Auch ist er schon früher „strafrechtlich in Erscheinung getreten“ (so später der Staatsanwalt.)

Heiner, der Mordermittler nach dem Anschlag (seriös und uneinsichtig: Alexander Steindorf) sieht das alles natürlich anders. Er glaubt „Polizei, Politiker und die Behörden der Justiz“ zu Unrecht in die Verantwortung genommen, wenn die Ermittlung nichts ergibt.

Warum aber ergab die Ermittlung so wenig? Dieser Frage geht das Recherche-Stück nach mit Interviews, Reactments und Beobachtungen nach.

Was war geschehen? Eine mit TNT gefüllte Bombe verletzte zehn Menschen, eine im fünften Monat schwangere Frau verlor ihr ungeborenes Kind. Betroffen war eine Gruppe Kontingentflüchtlinge aus der ehemaligen Sowjetunion, darunter sechs jüdischen Glaubens.

Da es regnete, sei die Spurensicherung vorzeitig abgebrochen worden und am nächsten Tag ergebnislos geblieben, erfahren wir vom verantwortlichen Polizisten. Die Ermittlungen wurden eingestellt. „Ruhe bewahren, war das Gebot der Stunde“.

Das Stück-Team stellt die Frage, ob damals (vielleicht auch heute noch) viele ein „eingeschränktes Sichtfeld“ hatten. Dabei schauen sie nicht nur auf Polizei und Justiz, untersuchen vielmehr auch den eigenen Bereich. Benennen dazu Schlingensiefs Zürich-Skandal im Jahr 2001. Im Rahmen seines „Provokations-Theaters“ setze der Theatermann auf gezielte Missverständnisse und irritierende Ironie. In diesem Sinne besetzte er bei seiner Züricher Hamlet-Inszenierung angeblich aussteigewillige Rechtsextremisten als Statisten, um damit das Aussteigeprogramm der Bundesregierung zu unterstützen. Ungesehen (Premiere war am 10.5.) wurde das Stück zum Berliner Theatertreffen 2001 eingeladen und die Statisten von den Grünen zu einer Führung durch den Bundestag eingeladen. Torsten Lemmer - bis heute Ratsherr für die Freien Wähler in Düsseldorf - war dabei. Ein Zitat: „Wir machen uns breit vor ihrer Nase. Wie blöd der Schlingensief ist“.

Dann 2014 die Wende. In der JVA renommiert einer mit seinem Wissen um Ralph S. als Attentäter.Cathi war am Fall geblieben, drängt jetzt auf Wiederaufnahme. Eine DNA wird am Tatort entdeckt und es kommt 2018 zur Anklage gegen Ralph S.

Der große Bühnenraum wird von den vier Agierenden mit unzähliger schwarzen Klappstühlen vollgestellt. Sie bleiben leer beim Gerichtsprozess. Ein eindrucksvolles Bild der Vergeblichkeit. Ein unengagierter Richter verzichtet auf belastende Zeugenaussagen. Er habe den Prozess abgekürzt, durchgepeitscht meint Cathi. Am Ende dann noch ein Entlastungszeuge mit verstörender Intensität (eindringlich: Jonathan Schimmer). Er erklärt den Täter zum Opfer: von Frau und Kindern verlassen, das Geschäft verloren, aus der Stadt geflohen vor einer von der Linken angestoßenen Hetzjagd. Dann folgt die reine Reichsbürger-Propaganda. Dabei nähert er sich aggressiv den Zuschauern. Bedrohlich. Erschreckend.

Alles bleibt unhinterfragt, unwidersprochen.

Am Ende Freispruch und Entschädigungszahlung für Ralph S.

Zum Schluss ergreift Bibi noch einmal das Wort, wiederholt die Eingangssätze und bekennt: „Dieser Anschlag war ein Anschlag auf mein Leben.“ Sie spricht für die Opfer, die nicht zu Interviews bereit waren.

 

Dunkeldorf ist die erste Produktion einer Reihe unter dem Konzept „Hidden HiStories“, des Theaterkollektivs Pièrre.Vers (künstlerische Leitung Christof Seeger-Zurmühlen und Julia Dillmann). Mit Spitzenförderung des Landes NRW.