Heimsuchungen durch gestürzte Statuen
Auf einer leeren Bühne steht - meist im Dunklen - ein einfaches, aus primitiven Holzbohlen gezimmertes Podest. Ab und zu wird es kurz ins Spotlight gerückt. Dann beginnt Oliver Zahn mit immer gleichen Worten ein neues Kapitel seiner Lecture Performance: „Auf einem Sockel wie diesem…“ Theaternebel hüllt den leeren Sockel ein; Geister soll man dann sehen, meint das Produktionsteam: Geister der zuvor auf diesen Sockeln thronenden Figuren. Tut man aber nicht, zumindest nicht im tanzhaus nrw, in dem Zahn im Rahmen des diesjährigen Impulse Festivals gastierte. Der Performer spricht 45 Minuten lang monoton in sein Mikrofon, regungs- und emotionslos, sieht man einmal davon ab, dass man ab und zu ein wenig Ironie aufblitzen zu sehen glaubt. Zwischen den einzelnen Erzählungen erklingt Mozart-Musik: Fragmente aus dem 2. Akt von Don Giovanni. Mehr Action is‘ nich‘. Und doch ist es genug, um den Denkapparat in Schwung zu bringen, über eigene Erfahrungen zu reflektieren und Stoff für stundenlange Diskussionen zu sammeln.
In Mozarts Oper sucht der von Don Giovanni ermordete, inzwischen als steinerne Statue ehrenvoll auf einen Sockel gestellte Komtur seinen Mörder zum Abendessen heim. Zahn erzählt vom Nachleben anderer Statuen. Auch die haben irgendwann ihren Sockel verlassen, meist weniger freiwillig als Mozarts Komtur. Zahn nimmt uns mit auf eine Weltreise zu gestürzten Denkmälern nach Windhoek und Bad Kissingen, nach Chapel Hill, Rochester und Friedrichshain. Überall wurden Denkmäler geschleift und überall hat die Geschichte Geschichten kreiert, die zu einem unterschiedlich gearteten Nachleben der Statuen führte, oft grotesk, oft widersprüchlich, manchmal erstaunlich, wenn man die mit den Denkmälern verbundenen historischen Ereignisse bedenkt. Zur Staatsaffäre wuchs sich der Sturz des „Silent Sam“ aus, des Confederate Monument an der University of North Carolina - ein Denkmal für die Soldaten der Konföderierten, die im amerikanischen Süden die Sklaverei verteidigten, bei dessen Enthüllung im Jahre 1913 der Vertreter der Universität eine Rede zur Verteidigung der „White Supremacy“ hielt. Nach dem Zweiten Weltkrieg wuchsen die Widerstände gegen das 2018 schließlich vom Sockel gestoßene Denkmal - und groteske Diskussionen und Protestbewegungen begannen.
Ein Systemwechsel führte nach der Wende des Jahres 1989 zum Sturz des 1970 errichteten Lenin-Denkmals in Ostberlin: Es wurde in 129 Teile zersägt und vergraben. Mittlerweile wurde der Kopf wieder ausgebuddelt und zu einem Prunkstück der Ausstellung abgebauter Denkmäler in der Zitadelle Spandau (die übrigens nicht ein einziges Monument aus der Geschichte der alten Bundesrepublik enthält). Ein Friedhof der Denkmäler beherberge die Trümmer der eigenen Geschichte, formuliert Zahn treffend: Die Spandauer Ausstellung dürfte es bezeugen. - Die älteste Bismarck-Statue Deutschlands behauptet sich heute noch im Kurpark in Bad Kissingen und wurde 2015 aus konservatorischen Gründen mit einer Bronzehaut überzogen. Die meisten Bismarck-Denkmäler dagegen wurden ausgerechnet von den Nationalsozialisten zerstört und eingeschmolzen, weil man das Material dringend für Waffen im Zweiten Weltkrieg benötigte: „Was heute noch steht“, berichtet Zahn ironisch, „haben die Nazis verschont.“ Und: „Bismarck kehrte zurück - als Kugel im Lauf des Gewehrs eines Soldaten.“
So gibt es massenweise skurrile Beispiele bis hin zum Denkmal des heute umstrittenen ehemaligen Reichspräsidenten Paul von Hindenburg, das am Kyffhäuser stand nach dem Zweiten Weltkrieg von den siegreichen sowjetischen Soldaten vernichtet werden sollte. Da es sich als zu schwer für den Transport und zu hart für die Vernichtung erwies, wurde es vergraben - und in Jahre 2004 zufällig im Fundament des Bungalows eines Gastronomen wiedergefunden: Hindenburg als Fundament der Nation, spottet Zahn.
Vom Sockel gestürzt wurden umstrittene Helden und Verbrecher der Geschichte, wurden auch respektable Menschen, deren Weltanschauung einfach nicht mehr in die Zeit passte. Passen Denkmäler überhaupt noch in die Zeit? Mozart, so Zahn, schrieb Don Giovanni zu einer Zeit, als der Nationalstaat ein übersteigertes Repräsentationsbedürfnis entwickelte. Denkmäler, das wird in Zahns Bühnen-Essay ganz deutlich, sind in extremem Maße dem Zeitgeist unterworfen. Vermutlich hat jede und jeder im Publikum eigene Erinnerungen an gestürzte oder eben weiterlebende Denkmäler, auf die er oder sie im Laufe des Lebens gestoßen ist. Ikonisch sind die Bilder der fallenden Statue von Saddam Hussein in Bagdad - ein Symbol des vermeintlichen Sieges der USA im Irak-Krieg. Wir alle haben gleichzeitig empfunden, welche Provokation diese Bilder für viele auf ihre Geschichte stolze Irakerinnen und Iraker gewesen sein müssen. Der Schreiber dieser Zeilen erinnerte sich während der Aufführung an seine zahlreichen Reisen durch Osteuropa und Zentralasien: Leninplätze existierten nach der Wende weiter, Lenin-Statuen weniger, Stalin-Denkmäler waren fast allerorts verschwunden. Bis dann in Osh, im Süden Kirgistans, der örtliche Stadtführer im Jahre 2005 eine unter dunklen Bäumen verborgene Stalin-Statue vorzeigte und ganz pikiert reagierte, als wir deren Existenz mit einem ungläubigen Lachen quittierten. Mit unserem Lachen hatten wir seinen Helden beleidigt. - Zahn erzählt von der Kontroverse um das Reiterdenkmal in der namibischen Hauptstadt Windhoek, das an die toten deutschen Soldaten der „Schutztruppe“ erinnern sollte, die für den Völkermord an den Namas und Hereros in Deutsch-Südwestafrika verantwortlich war. Die Kolonialherren gingen gegen den Aufstand der Einheimischen mit größter Brutalität vor. - Heute steht das Denkmal ohne Sockel in einem Museum. Und die afrikanische Bevölkerung wehrt sich gegen die vom namibischen Staat beschlossene Umbenennung des nach einem deutschen Kaufmann, der die Einheimischen bei der Gründung einer Kolonie nach Strich und Faden betrog, benannten Ortes Lüderitz. Home is where despair is - und Namen sind enger an die persönliche Geschichte gebunden als an die lang vergangene Historie eines Staates.
Hochaktuelle Fragen wirft Zahns sachlich gehaltener Vortrag auf. Wann darf, wann muss man in die historisch begründete Erinnerungskultur eingreifen? Wann muss man eine Ehrung früherer Helden und Staatsmänner zurücknehmen, wann genügt eine erläuternde Korrektur, wann erkennt man historische Verdienste an, auch wenn der Geehrte nach heutigen moralischen Standards eine solche Anerkennung vielleicht nicht verdient hätte? Der Umgang mit unserer Geschichte reicht in der Bevölkerung von Rückwärtsgewandtheit bis zur Cancel Culture, von Glorifizierung bis zur Geschichtsvergessenheit und ist zum hochemotionalen, die Gesellschaft spaltenden Politikum geworden. Die Adolf-Hitler-Straße umzubenennen, war zweifellos alternativlos. Aber den Hindenburg-Platz? Und wie ist es mit dem Woermann-Haus?
Zahn zeigt auf: Gestürzte Denkmäler leben weiter. Das untote Dasein von Statuen verrate mehr über den Zustand einer Gesellschaft als die Denkmalstürze selbst, sagt er. Apropos: Welche Straße wollen sie denn bei Ihnen gerade umbenennen?