Gesungener Förderantrag
In einer verschneiten Waldlandschaft fristen drei arg gerupfte Tannen ein armseliges Leben. Ein vierter Baum ist umgestürzt und liegt wie eine Barriere vor dem Zugang zum Wald. Zwei Waldarbeiter und zwei Waldarbeiterinnen bemühen sich netto 95 Minuten lang um die Beseitigung des Hindernisses. Das ist harte Arbeit und verlangt offenbar nach einer Mittagspause. Anders jedenfalls lässt sich nicht erklären, warum das Singspiel, das im Rahmen des Impulse Festivals 2023 im CENTRAL des Düsseldorfer Schauspielhaus gastierte, trotz seiner überschaubaren Dauer einer Unterbrechung bedarf.
Erklären lässt sich so manches nicht an diesem Abend - vor allem nicht, warum Szenario zu diesem Festival eingeladen wurde, das den Anspruch hat, herausragende Produktionen der Freien Darstellenden Künste zu präsentieren. Jakob Engels Bühnenbild ist allerdings durchschaubar - und großartig überdies. Es hat eine Metaphorik, die schmunzeln macht, obwohl sie eigentlich schaudern machen sollte: Rau und kalt geht es in weiten Teilen der Freien Theaterszene zu. Künstlerinnen und Künstler haben zu wenig zum Leben und zu viel zum Sterben. Hindernisse müssen beseitigt werden, um halbwegs erfolgreich arbeiten zu können - und das dauert länger als zwei Stunden. Fördergelder müssen eingeworben werden. In wohl keinem Land der Welt gibt es für die (auch in Deutschland) darbende Freie Szene so viele Fördertöpfe wie in dem unseren - aber um sie anzapfen zu können, bedarf es bürokratischer Anstrengungen. Bürokratie absurd aussehen zu lassen, ist meist nicht schwierig - Bürokratie ist fast immer absurd: Die Möglichkeit juristischer Einsprüche bringt das automatisch mit sich. Diskretionär geht heutzutage nichts mehr, weil immer irgendwo irgendwer klagt.
Die Truppe von Jan Philipp Stange klagt nicht. Sie singt. Sie singt den Förderantrag, chorisch und Wort für Wort. Natürlich ist das lustig, eine Weile zumindest. Die Performerinnen und Performer geben sich ironisch; manchmal zeigen sie sich sogar unterwürfig, um zu demonstrieren, wie sich der Anspruch, kritisches Theater zu zeigen, und die Abhängigkeit von Fördertöpfen gegenseitig konterkarieren. Auf manche der im Förderantrag gestellten Fragen findet die Frankfurter Gruppe Antworten von bizarrer Klarheit: „Wir rechnen damit, dass im Rhein-Main-Gebiet der Diskurs über das Thema Entfremdung und Arbeit um circa 10 % intensiviert wird.“ Man formuliert seine Ziele mit grotesker Naivität: „Mit dem Musiktheater möchten wir ein Stück weit die Welt verändern.“Das sind die Momente, in denen die Performance mit einem wunderbaren, subversiven Humor punktet. Solche Momente aber sind selten, weil die Inszenierung auf einer einzigen simplen Idee beruht.
Ana Berkenhoff, Daniel Degeest, Aline Huppertz und Dominik Keggenhoff streuen Soli in den vorgegebenen bürokratischen, chorisch dargebotenen Antragstext respektive die gemeinsam entworfenen Antworten ein, die sich mit ihrer persönlichen Motivation, ihrer finanziellen Situation und ihrer Frustration beschäftigen, mit Selbstausbeutung, Künstlerarmut, Burnout und all den Risiken der Solo-Selbständigkeit, die sich durch die in ihren Auswirkungen noch immer nicht vollständig überwundene Pandemie weiter erhöht haben. Von Menschen, deren Vergütung am Rande des Existenzminimums liegt, wird die Übernahme eines unternehmerischen Risikos verlangt. Viele Künstlerinnen und Künstler sind mit dieser Situation, mit diesen Ansprüchen überfordert. Was die vier Matadorinnen und Matadoren auf der Bühne angeht, so erzählen sie das alles mit angemessener Selbstironie. Das wirkt sympathisch. Und das alles ist traurig, so traurig wie wahr. Bloß: Das alles ist mutmaßlich allen im Publikum in jedem Detail bekannt.
Nichts Neues auf dem Rialto also, außer der Verpackung. Die Kombination aus einer übrigens ebenfalls mit viel Sinn für Ironie komponierten Musik (mit meist klassischen, am Ende eher Brecht/Weill'schen Anklängen) und Bürokratie gibt der Aufführung den Witz einer gelungenen Kabarettnummer, trägt aber nicht über 95 Nettospielzeit-Minuten. Die Musiker sind zweifellos hervorragend gecastet, die Hälfte der Schauspielerinnen und Schauspieler kann singen, und zumindest der Text und Vortragsstil von Daniel Degeest steckt voller Witz und hintergründigem Humor. Die im Bereich Oper und Musik ausgebildete Aline Huppertz treibt den erdenschweren Förderantrags-Text bisweilen witzig in den Opern-Olymp. Ansonsten ist Jan Philipp Stanges One-Idea-Wonder extrem selbstreferentiell, was die Truppe wohl am Ende erkannt hat, denn sie thematisiert diese Schwäche in der letzten halben Stunde gleich mehrfach.
Neue Erkenntnisse bietet der durchaus unterhaltsame, aber intellektuell flache Abend mit seiner vorhersehbaren Handlung nicht. Am Ende ist die Barriere, die den Zugang zu Wald und Fördermitteln versperrte, erwartungsgemäß abgebaut. Man hofft nun wenigstens noch auf eine Schlusspointe. Doch denkste: Als Zugabe singt man die Datenschutzerklärung. Wie witzig! - Das Publikum war's erstaunlicherweise zufrieden.