Der schönen Kommunistin droht der Suppentopf
Der Ausbeuter schwingt die Peitsche, der Hund hat einen engen Zwinger als Hundehütte, und der Stall des Esels besteht auch nur aus einer Drahtgestell-Box. „Dummer Esel“, heißt es ja auch im Sprachgebrauch, „dummer Esel“, denkt wohl auch Frau Müllerin, wenn er sie nervt, wenn er sie mit seinem Gejammere nachts aufweckt. Doch der Esel ist nicht dumm: Er ist in Friederike Hellers Inszenierung vom Staatstheater Kassel sogar der vielschichtigste Charakter, der nicht nur die linke Ideologie beherrscht, sondern auch die Annehmlichkeiten des Lebens zu schätzen weiß - und der seine Fähigkeit zu Ironie, Gelassenheit, Poesie und Wortwitz bis in den Tod nicht verliert. Wenn die Inszenierung einmal nervt oder langweilt (und das tut sie in unregelmäßigen Abständen leider immer wieder), dann schaut man am besten Jakob Benkhofer an, den zotteligen Esel Grau, beobachtet seine Mimik und wartet auf seine nächsten Kommentare oder Lieder. Schon hellt sich die Miene des kritischen Zuschauers wieder auf.
Intellektuell gewachsen ist dem Esel zweifellos der Hund Schlau. Der Wachhund von Herrn und Frau von zur Mühlen nimmt das mit dem Wachen nicht allzu genau, vor allem dann nicht, wenn eher unterprivilegierte Menschen wie zum Beispiel arme Flüchtlingskinder nach des Müllers Brötchen lechzen. Clemens Dönicke gibt den Hund als nassforschen marxistischen Phrasendrescher, aber Phrasen oder nicht: schlagfertig ist er schon, und seinen Marx nebst Sekundärliteratur hat er offenbar gelesen. Ob das auch für das kommunistische Federvieh gilt, das in Person von Huhn Kommun auftritt, scheint nicht ganz so sicher, denn das merkt erst, als es über dem Kochtopf schwebt, was die besitzende Klasse mit ihm vorhat. Aber es hat offenbar doch genug in der Zeitung geblättert oder Radio gehört, um zu wissen, dass manche Artgenossen unter der Folter der Massentierhaltung leiden, und es weiß, was alles schief läuft im Hinblick auf den Klimaschutz. Last, but not least gibt es in Martin Heckmanns Stück, das sich bei den Mülheimer Theatertagen 2023 um den mit € 15.000,- dotierten Mülheimer Dramatikpreis bewarb, auch noch die schwangere Katze. Eigentlich hat sie das schlimmste Schicksal: Sie wird von den aus den Ställen ausgebrochenen und zur Erholung ans Meer gereisten Grau und Schlau halb ertrunken am Strand aufgefunden - in einer Haltung wie der kleine Alan Kurdi damals 2015, aber gottseidank noch am Leben. Flüchtling und Migrantin ist sie, aber als sie wieder zu sich kommt, nimmt sie sich des Themas Treibhausgase an.
Esel und Hund, Katze und Huhn - Sie haben es längst gemerkt: Wir haben es mit zeitgemäßen Wiedergängern der Bremer Stadtmusikanten zu tun. Auch denen versagte man ja einst das Gnadenbrot, und sie taten sich solidarisch zusammen unter dem Motto Etwas Besseres als den Tod finden wir überall. Als Reinkarnation der Stadtmusikanten macht natürlich auch das neuzeitliche tierische Quartett Musik - mit Hilfe der Liveband und der Komposition von Masha Qrella sogar gar keine schlechte, obwohl nicht alle von den Vieren wirklich gut singen können. Manche Songs haben eine Art populärbrecht’sches Format, was gleichzeitig intelligent und witzig, aber fast nie aggressiv ist. Einmal allerdings wird tatsächlich Brechts etwas agitprop-artiges Lied von der Solidarität zitiert, und die Tiere marschieren zu stampfenden Rhythmen als „EIN Tier mit acht Augen“ auf das Gut der Müllersleute zu. Da wird auch die meist harmonische Musik vorübergehend rebellisch und aufrührerisch. Die Dialoge und die ideologischen Thesen der Tiere stecken voll von dem aus anderen Texten des Autors bekannten Heckmann’schen Wortwitz. Das gilt auch für die teilweise großartigen Liedtexte - bloß versteht man die leider nicht gut, wenn sie von den Sängerinnen und Sängern verschluckt oder von der Band übertönt werden. Auch eine Woche nach dem Besuch der Aufführung weiß der Schreiber dieser Zeilen daher nicht so genau, ob es eine gute Entscheidung war, dass Martin Heckmanns den Tieren und den beiden zur-Mühlen’schen Ausbeuter-Figuren ausgerechnet ein Singspiel geschrieben hat.
Als Lese-Drama ist das Ganze nämlich ziemlich unterhaltsam - und wirkt vielschichtiger als die etwas schwarz-weiß argumentierende Aufführung. Klimakrise und Wachstumskritik, soziale Gerechtigkeit und ausbeuterische Machtverhältnisse, die (vielleicht wünschenswerte, aber nicht immer gegebene) Solidarität der Unterdrückten, Aussteigertum und Fragen von Leben und Tod werden diskutiert: humorvoll, flott und aus einer naiven, aber geistreichen Perspektive des Märchens und der Fabel, die die Themen des Stückes auf eine einfache, aber wirkungsvolle Weise auch einem dialektisch wenig geschulten Publikum zu vermitteln in der Lage ist. Nicht nur die Tiere, auch die Erde und die Landschaft kommen gelegentlich zu Wort - Heckmanns war nach eigenem Bekunden wichtig, ein Stück zu schreiben, in dem der Mensch einmal nicht im Vordergrund stehe. Wenn man die Gedanken seines Stückes fortschreibt, könnte man sogar argumentieren, dass er über das Ende des Anthropozäns schreibt.
Aber damit hätten wir vielleicht ein bisschen viel in den Text hineininterpretiert. Hagen Oechel und Lisa Natalie Arnold als Herr und Frau von zur Mühlen spielen tatsächlich nur - für die ideologische Grundierung des Stücks unverzichtbare - Nebenrollen. Eigentlich weiß der Müller was sich die Tiere wünschen, und formuliert es sogar selbst: „Freiheit, Selbstbestimmung, individuelles Erleben.“ Was wahrscheinlich mehr ist als er selber sich gönnt. Der Müller jedenfalls bleibt stur, uneinsichtig und verbohrt. Oechels Figur bleibt dadurch - zumindest in Friederike Hellers Inszenierung - recht platt und eindimensional. Auch die Müllerin ist keineswegs sympathisch - aber sie macht eine gedankliche Entwicklung durch. Anders als ihr Mann erkennt sie die Notwendigkeit und Wichtigkeit von Klima- und Tierschutz und scheint bereit zur Lockerung ihrer repressiven Haltung, aber sie vermag sich gegen ihren Gatten nicht durchzusetzen. Bis dass sie am Ende … - aber lassen Sie sich überraschen. Denn der potenziellen Schluss-Variationen gibt es reichlich. Da wir Menschen es ja weiterhin lieben, die schöne Kommunistin zum Suppenhuhn zu machen, wird unser Ende und vielleicht auch das der Tiere apokalyptisch sein. Oder dürfen wir, da wir uns bei Heckmanns im Bereich des Märchens bewegen, auf einen versöhnlichen Schluss hoffen?
Das verraten wir nicht. Gehen Sie hin, und singen Sie mit.