Wenn der Sohn zum Tablet wird
Da hat der Direktor doch tatsächlich dem elfjährigen David verboten, die Schule zu besuchen. Das wird sich rächen: Eine Lehrerin, die diese Entscheidung offenbar initiiert hat, wird später aus dem Dienst an der Schule entlassen. - Auch in den sozialen Netzwerken tobt ein Kampf zwischen David-Fans und David-Hassern. Mutter Renate und Vater Konrad lesen sich täglich die entsprechenden Mails vor und halten die Hass-Mails kaum aus. Die Medien schalten sich ein; sie interviewen Renate zu ihrem schweren Leben mit ihrem Sohn - anfangs skeptisch, später zunehmend unterstützend. Die Ehe von Davids Eltern, das machen Therese Dörr und Gábor Biedermann am Schauspiel Stuttgart sehr deutlich, steht auf der Kippe. Konrad scheint mit den Nerven am Ende. Lange, so scheint es, wird er das Spiel nicht mehr mitmachen können.
Das Spiel ist bitterer Ernst. Denn David ist seit drei Jahren tot, von einem betrunkenen Autofahrer über den Haufen gefahren. Renate und… fast ein wenig zögerlich möchte man angesichts von Nick Hartnagels Inszenierung hinzufügen: auch Konrad erkennen diese Tatsache nicht an. „Wer entscheidet denn darüber, ob ein Kind tot ist, wenn nicht die Eltern?“, fragt Renate empört. Für sie lebt ihr David weiter - als Tablet mit etwas vergrößertem Kameraauge, verstaut in einem leeren Rollstuhl. Kommt das Tablet einmal versehentlich abhanden, ist die Panik groß. Doch David hat sich wahrscheinlich nur versteckt. Erleichterung, als das Gerät wiedergefunden wird: „der David darf das in Zukunft nimmer machen“, säuselt Papa seinem virtuellen Sohn ins Rollstuhl-Ich.
Der Sohn habe „einfach seit dem Unfall eine extreme Form von Demenz“, redet sich Renate ein. Dazu steht im Widerspruch, dass David kommuniziert: über sein Internet Account. Das wird zur Untermauerung von Davids Lebenswillen von Mutter oder Vater bedient und produziert einfache, kindgerechte Sätze. Eine parallele Realität entsteht, mit alternativen Wahrheiten einer Fake Welt. Und die Umwelt, rücksichtsvoll darauf bedacht, die Trauerarbeit der Eltern zu respektieren, geht zunehmend darauf ein. Sogar eine neue Schule findet sich, die David aufnehmen will. Eine Talkshow-Moderatorin, wie so viele unserer heutigen Medienschaffenden darauf trainiert, wider jede Logik der Stimme des Leids anstelle der Stimme der Vernunft zu folgen, wird zur Unterstützerin.
Der Autor Clemens J. Setz folgt in den meisten seiner Texte einem höchst effektiven Muster: Man nehme eine realistische Situation, drehe sie an der einen oder anderen Stelle ein kleines bisschen ins Surreale - und schon ist die Irritation groß. Die krasse Realitätsverweigerung der Eltern führt diesmal dazu, dass auch die Realitätsveränderung des Alltags-Plots etwas ausgeprägter ausfällt als üblich. Die durchaus witzigen und farblich perfekt auf das Bühnenbild abgestimmten Kostüme und Frisuren, die Tine Becker den meisten der Akteure verpasst hat, betonen den surrealistischen Touch noch. Das tut dem Stück nicht unbedingt gut, das sich aber immerhin mit gleich zwei interessanten Phänomenen beschäftigt: einerseits mit den fragwürdigen Parallelwelten des Internets, andererseits mit der Überforderung von Menschen beim Umgang mit dem Tod eines Kindes, breiter gefasst vielleicht mit dem Verlust des Lebensinhalts. Beides sind Themen, die einen schaudern machen können, und die Verbindung beider Themen gelingt Setz ausgesprochen elegant. Die Fake Reality des Internets einschließlich der wachsenden Zahl der Fake Accounts respektive der Accounts nicht mehr existenter Personen wuchert so unkontrolliert und unbemerkt wie die sich rasant verbreitende Waldrebe in Europa. Was wäre, wenn die Waldrebe weh tue, aber niemand es wirklich bemerke, fragt Konrad einmal. Die Fakes im Internet tun weh - aber auch sie werden scheinbar schmerzlos hingenommen und oftmals kaum realisiert…
Renate ist die verrannteste, weil vollständig in eine Parallelwelt abgedriftete Figur unter all den merkwürdigen Gestalten dieses Dramas, aber sie trägt als einzige eine halbwegs adrette Frisur. Therese Dörr spielt die aufrechte, verbissene, kämpferische, oft mühsam die Contenance wahrende, dann aber doch wieder wutschnaubende Mutter des Rollstuhls herausragend. Gábor Biedermann verkörpert glaubhaft die Zerrissenheit seiner Figur: Er klammert sich an die Lebenslüge, die seine Frau aufrechterhalten will, scheint sich gleichzeitig aber dieser Lüge bewusst zu sein und sie nur aufrechtzuerhalten, um seine Ehe zu retten. Die Aufführung mag trotz ihrer kurzen Dauer von deutlich weniger als zwei Stunden Längen haben. Aber nach und nach kriecht einem dank Dörrs und Biedermanns Spiel das Surreale der Geschichte ins Hirn, nistet sich mehr und mehr ein und wird zu regelrechtem Grusel. Hartnagels Inszenierung hebt den Text von Clemens Setz auf eine höhere Qualitätsstufe.